Josef Grubmüller
Pubertät und pädagogische Konfliktlösungen im Gemeinsamen Unterricht an Sekundarstufenschulen
Vorbemerkung
Eine schnell wachsende Gruppe nichtbehinderter und behinderter Schülerinnen und Schüler drängt aus Grundschulklassen mit Gemeinsamem Unterricht in die Sekundarstufenschulen. Für alle Kinder ist dieser Schulwechsel, der erste Übergang zwischen zwei Subsystemen unseres Bildungssystems, mit Verunsicherungen verbunden. Dies besonders, weil er oft schon in der Vorpubertät stattfindet. Für Schülerinnen und Schüler aus Integrationsklassen treten in diesem Lebensabschnitt, in dem Jugendliche nach möglichst großer Gemeinsamkeit mit ihrer Altersgruppe streben, zusätzliche Verunsicherungen auf. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen und dem fremden Anderssein, mit Behinderungen und mit Versagenserlebnissen wird erneut und jetzt verstärkt zum Thema der nichtbehinderten und der behinderten Mädchen und Jungen. Oft versuchen verunsicherte Lerngruppen, sich durch Ausgrenzung der schwächsten Gruppenmitglieder zu stabilisieren. Zur pädagogischen Konfliktlösung sind daher qualifizierte Interventionen notwendig.
Deshalb will ich zunächst einige wichtige Voraussetzungen dieser Interventionen im Rahmen des besonderen schulpädagogischen Settings des Gemeinsamen Unterrichts darstellen, um dann zur Darstellung verschiedener Interventionsmöglichkeiten der Lehrerinnen und Lehrer für die pädagogischen Konfliktlösungen zu kommen.
Voraussetzungen für Interventionen zur pädagogischen Konfliktlösung
Abgrenzung und Zusammenarbeit, Arbeitsvoraussetzung der Teams und Vorbild für die Konfliktlösung der Schülerinnen und Schüler
Eine wesentliche Voraussetzung für pädagogische Konfliktlösungen und für tragfähige integrative Prozesse ist die Teamarbeit. Im Gemeinsamen Unterricht kooperieren Professionelle mit sehr unterschiedlichen Qualifikationen wie Sozialpädagogen, Erzieher, Integrationshelfer, Therapeuten und Lehrer aller Schularten am Arbeitsplatz Schule. Erfolgreiche Kooperation erfordert zunächst eine klare Abgrenzung der Arbeitsfelder aller Kooperationspartnerinnen und -partner.
Der Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule, der von den Lehrerinnen und Lehrern umzusetzen ist, orientiert sich am kognitiven, affektiven und sozialen Lernprozess der Kinder in der Schule. Er grenzt damit das schulpädagogische Arbeitsfeld von den übrigen pädagogischen oder therapeutischen Arbeitsfeldern ab. Diese orientieren sich am außerschulischen Lernen und an der physischen, psychischen und sozialen Entwicklung der Schülerinnen und Schüler. Lehrer und insbesondere Sonderschullehrer arbeiten bei Lern- und Erziehungsproblemen der Jungen und Mädchen zwar ebenfalls in diesen Arbeitsfeldern; Ausgangspunkt und Ziel ihrer Arbeit ist jedoch in Abgrenzung zu Sozialpädagogen und Therapeuten der schulische Lernprozess.
Um den Integrationsprozess nicht auf das schulische Lernen zu begrenzen, müssen die besonderen Bedingungen zur Entfaltung der unterschiedlichen Qualifikationen aller Kooperationspartner beachtet werden.
Auch bei gründlicher Klärung aller Fragen der Zusammenarbeit durchläuft jedes Team des Gemeinsamen Unterrichts einen Gruppenbildungsprozess, dessen typischer Verlauf bekannt sein sollte, um nicht unnötige Verunsicherungen zu erzeugen. In der Regel tritt in Gruppenbildungsprozessen nach der ersten euphorischen Phase, in der sich alle gut verstehen, eine Krisenphase ein. Erst aus der produktiven Bewältigung dieser Krise entsteht die Fähigkeit des Teams zur gemeinsamen zielgerichteten Arbeit. Die Erfahrung zeigt, dass Teams, die schon zu Beginn ihrer Arbeit klare Vereinbarungen getroffen haben, diese Krisenphase ohne persönliche Kränkungen und schneller durchlaufen können und deshalb früher eine befriedigende Teamarbeit entwickeln.
Die Teamsituation mit ihren Möglichkeiten zum Feedback und zur multiprofessionellen Reflexion von Problemfeldern bildet einen wichtigen Hintergrund für die Interventionen zur pädagogischen Konfliktlösung in Klassen mit Gemeinsamem Unterricht.
Darüber hinaus hat das Konfliktlösungsverhalten der Pädagogen untereinander für die Jugendlichen eine ganz entscheidende Vorbildfunktion.
Integrative Prozesse und die dazugehörenden pädagogischen Konfliktlösungen brauchen einen klar strukturierten Zeitrahmen
Neben der Teamsituation ist ein ausreichend großer und klar strukturierter Zeitrahmen eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung integrativer Prozesse. Klassen mit Gemeinsamem Unterricht sollen einen großen Teil ihrer Zeit in der Schule zusammen verbringen. Dies wird in den höheren Klassen immer schwieriger, muss aber bis zum Verlassen der Schule sichergestellt sein. Im Stundenplan müssen Zeiten für offene Unterrichtsformen wie Wochenplan, Arbeitsplan, Freiarbeit etc. und Zeiten für Projekttage ohne Unterbrechung durch Fachunterricht eingeplant werden. In jeder Klasse muss mindestens eine Stunde pro Woche zur Verfügung stehen, in der ohne Zeitdruck über Probleme in der Klasse diskutiert werden kann. Die oben beschriebenen Interventionen zur pädagogischen Konfliktlösung haben hier einen möglichen Ort.
Offene Unterrichtsformen schaffen günstige Bedingungen für integrative Prozesse und pädagogische Konfliktlösungen
Viele Sekundarstufenschüler aus den Klassen mit Gemeinsamem Unterricht bringen Erfahrungen in Wochenplanarbeit, Freier Arbeit und Stationslernen aus der Grundschule mit. Wenn es gelingt, die notwendigen zeitlichen Freiräume zu schaffen, kann die Sekundarstufe auf ihrem Leistungsniveau an diese Fähigkeiten anknüpfen. Freiräume für offene Unterrichtsformen können beispielsweise geschaffen werden, wenn an einem Tag in der Woche nur das Kernteam und keine Fachlehrer in der Klasse eingesetzt werden. Zeit für die Wochenplanarbeit steht zur Verfügung, wenn die Fächer Deutsch, Mathematik, Gesellschaftslehre und Englisch jeweils eine Stunde in die Wochenplanzeit einbringen. Im Wochenplan wird dann auch Stoff aus diesen Fächern differenziert und selbstständig bearbeitet. Diese offenen Unterrichtsformen mit einem hohem Maß an Differenzierung und Individualisierung bilden günstige Voraussetzungen für gemeinsame Tätigkeiten und damit für integrative Prozesse. Für die oben beschriebenen Interventionen zur pädagogischen Konfliktlösung ist es von ganz erheblicher Bedeutung, dass in offenen Unterrichtsformen auch hoch begabte Mädchen und Jungen Arbeitsaufträge erhalten, die ihnen Erfahrungen im Umgang mit ihrer persönlichen Leistungsgrenze ermöglichen.
© Verlagsgruppe Beltz, 1998 Letzte Änderung: 25.5.98 Bei Problemen: webmaster@beltz.de |