4.4. Die Lernziele der Übungsbehandlung im affektiv-motivationalen Bereich

In der Diskussion über das, was für Erfolg und Versagen in der Schule von Bedeutung sein könnte, wird der Aussage, daß Motivation eine Schlüsselkategorie für Lernerfolg ist, wohl von keiner Seite mehr widersprochen.
Bei einem Kind, dessen bisherige Schullaufbahn überwiegend aus Mißerfolgen bestand – diese Aussage ist für Legastheniker im allgemeinen generalisierbar – läßt sich in dem Bedingungsgefüge von sozialen Fehlverhaltensweisen und schulischer Minderleistung kaum feststellen, was Ursache und was Wirkung ist. So ergibt sich für die Therapie dieser Kinder die Notwendigkeit, ein Übungsprogramm bereitzustellen, das sowohl zum Abbau sozialer Fehleinstellungen als auch zum gleichzeitigen Aufbau von Leistungsmotivation und emotionaler Stabilität geeignet ist.

Lesen und Schreiben sind hochintegrative Vorgänge. Daß in so komplexen Abläufen jegliche Minderung der psychischen Stabilität Störungen und Leistungsversagen begünstigt, ist unmittelbar einleuchtend. Oft sind sogar – besonders, wenn die LRS spät als solche erkannt wird – nicht mehr die Schwere des speziellen Leistungsversagens für die schulische Situation bestimmend, sondern die begleitenden Kontaktprobleme und die gestörte Erlebnisverarbeitung, die sog. Sekundärsymptomatik. Auf die sich daraus ergebenden Konsequenzen in der unterrichtlichen Betreuung legasthener Schüler haben besonders TAMM (1970) und H. und R. MEYER (1971) hingewiesen.

Das schulische Verhalten eines Kindes mit gravierenden Schwierigkeiten im Schreiben und/oder Lesen – so wie sie durch die Bezeichnung "LRS" definiert sind – ist ja in aller Regel dadurch gekennzeichnet, daß dieses Leistungsversagen vom Kind als frustrierend empfunden wird. Es reagiert auf diesen Zustand genauso, wie es auch sonst auf Frustrationen reagiert, nämlich mit gesteigerter Abhängigkeit, Aggressivität, regressivem oder neurotischem Verhalten und Angst. Das oberste therapeutische Ziel muß also – vor jeder Erwartung einer Leistungssteigerung – in der psychischen Stabilisierung der Kinder gesehen werden.
Diesem Anspruch soll die Therapie unter drei Aspekten gerecht werden:

1. DieTrainingsinhalte sind so ausgewählt, daß es möglich ist, den psychologischen Aspekt der Spannungsabfuhr und der gezielten Bekräftigung in den Vordergrund zu stellen.

2. Die Therapeutenrolle ist so angelegt, daß Verhaltens – und Erlebnisweisen der Kinder in bezug auf eine Änderung ihrer Gefühle und Wahrnehmungen in Richtung auf weniger Bedrohung und weniger Ängstlichkeit bewirkt wird (TAUSCH 1970).

3. Durch die situativen Anregungsvariablen, die in Struktur und Material der Übungen begründet sind, geht eine starke intrinsische Motivation aus.

Zu 1: Es ist im Verlauf der Therapie zu erwarten, daß die Kinder mit Freude und Gelöstheit reagieren, wenn sich der Übungsleiter gerade am Anfang ganz intensiv darum bemüht, die Stärken eines jeden Kindes aufzuspüren und es seine Schwächen so vergessen läßt. Bezogen auf die Übungsinhalte bedeutet das zunächst konsequent – vor jeder Leistungsforderung – zum Abbau der resignativen Einstellung "ich kann nichts, ich kann mich mit niemandem messen" zu gelangen. Da lustbetontes Agieren das beste Mittel ist, angehäufte Unlust zu bekämpfen, können wir uns hier die sanierenden Auswirkungen spielenden Übens zunutze machen. Der gesamte Übungsaufbau ist so konzipiert, daß er von den Kindern als Spiel aufgefaßt werden kann und "doch die Aufforderung zu einer sich steigernden Leistung in sich schließt" (HUNGER-KAINDLSTORFER in INGENKAMP 1967, S. 188). Wir gehen dabei in den Anfangsübungen auf u. U. nicht ganz altersadäquate, vergleichsweise recht einfache Innervationsmuster und auf wenig komplexe Übungsabläufe zurück. Wir tun das einmal, um gewährleistet zu sehen, daß wir von einem schon von allen Kindern der Therapiegruppe erreichten Leistungsplateau ausgehen; zum anderen, weil wir erreichen möchten, daß trotz ständig steigender Schwierigkeit in den Übungen ein Großteil der Kinder die Aufgaben auch gegen Ende der Betreuungszeit noch mit Erfolg leisten kann, so daß das angestrebte Prinzip der positiven Verstärkung durchgängig erhalten bleibt. In den Übungsstunden gibt es immer wieder Situationen, die Kinder durch Mimik, Gestik, Worte oder Handlungen zu ermutigen und es damit gerade den Problemkindern zu ermöglichen, selbst bei auftretenden Schwierigkeiten motiviert zu bleiben, sich nicht auszuschließen und nicht ausgeschlossen zu werden.

Zu 2: Dem gewünschten positiven Beziehungsverhältnis zwischen dem Übungsleiter und den Kindern kommt entgegen, daß bei Kindern dieser Altersstufe die Bewegung dafür ein günstigeres Medium darstellt als die Sprache. So lassen sich die Bemühungen, eine emotional warme und angstfreie Situation herzustellen, leichter realisieren.

Zu 3: Die angebotenen Übungen sind für die Kinder so attraktiv, daß sie wie von selbst mitmachen. Auch wenn sie es anfangs gar nicht wollen, lassen sich die Kinder im Verlauf der Übungsstunden in das Spielgeschehen hineinziehen. Die Aufmerksamkeit der Kinder ist dann so gefesselt, daß sie sich mehr und mehr integrieren und ihre in anderen Situationen üblichen Ängste und Hemmungen vergessen.

Die stets neuen und kindgemäßen Übungsinhalte motivieren vor allem ängstliche und gehemmte Kinder zum Aktivwerden und Handeln. Aber auch die mißerfolgsgewohnten hyperaktiven Kinder können es in der offenen und entspannten Spielatmosphäre leichter als in anderen sozialen Situationen wagen, sich dem Risiko des Handelns auszusetzen, ohne Mißerfolg, Ärger, Unannehmlichkeit oder Spott fürchten zu müssen. Aus dem Zusammenwirken von Übungsangeboten, deren spielerisch-sportliche Form die Kinder zu lustbetonter Ausführung motivieren und einem therapeutischen Verhalten des Übungsleiters, das vor allem dadurch gekennzeichnet ist, daß er die Leistungen der Kinder lobt, ermutigende Hilfen und Anweisungen gibt – sich insgesamt partnerschaftlich verhält – entwickelt sich in den Kindern über das Bewußtsein eigener Leistungsfähigkeit eine Steigerung des Selbstbewußtseins und des Selbstvertrauens. So kann es gelingen, auch in den negativ besetzten und blockierten Bereichen des schulischen Lernens neue Leistungsmotivationen aufzubauen.

4.5. Exkurs: Physiologische und neurologische Modellvorstellungen

Die bedeutsame Rolle der psychomotorischen Aktivität in der Entwicklung des Kindes findet in der Psychologie zunehmend Beachtung. Sie ist in einigen Theorien schon integraler Bestandteil der Entwicklungskonzepte (HURLOCK 1971, PIAGET 1969). Dabei handelt es sich fast immer um deskriptive Erklärungsmodelle, die, sofern sie empirisch sind, auf der Beobachtung des Verhaltens während unterschiedlicher Entwicklungsabschnitte beruhen. Schlüssige – vor allem empirisch überprüfte – Theorien über das, was während der Entwicklung eines Kindes beim Lernen an nervösen Prozessen im Organismus abläuft, liegen z. Zt. noch nicht vor. Bei dem gegenwärtigen Kenntnisstand wären auch alle Hypothesen, die sich auf eine neuro-physiologische Modellvorstellung, z. B. bei der Erklärung der Phänomene "Rechtschreiben" und "Lesen" beziehen, nur Spekulation.
Die für unsere Fragestellung relevanten Theorien und Forschungsansätze aus dem amerikanischen Sprachraum – vorrangig wäre in diesem Zusammenhang wohl die Theorie der "neurologischen Integration" zu nennen, wie sie von DOMAN und DELACATO vertreten wird – gehen als "Hirntrainingslehren" auch mehr oder weniger unspezifisch von der Annahme aus, daß es aufgrund der Integration der neurologischen Prozesse unmöglich ist, eine Gehirnfunktion zu trainieren, ohne damit bis zu einem gewissen Grad auch sämtliche anderen positiv zu beeinflussen.
Die aufgrund physiologischer Forschung als gesichert anzusehende Tatsache, daß häufiger Gebrauch die Durchgängigkeit der synaptischen Zellverbindungen im menschlichen Gehirn steigert, Nichtgebrauch sie dagegen herabsetzt (ECCLES, zit. nach REIN/SCHNEIDER 1956), wird von KIPHARD (in EGGERT und KIPHARD 1972) unter Berufung auf GLEES und LEACH (zit. wie oben) zur Begründung eines Hirnreife-Trainings herangezogen. Danach kann durch gezielte sensumotorische Stimulation das Gehirn sowohl funktionell als auch in seiner chemischen und physiologischen Struktur so beeinflußt werden, daß damit eine erhöhte Leistungsfähigkeit erreicht wird. KIPHARD geht dabei allerdings überwiegend von der Arbeit mit hirngeschädigten Kindern aus, bei denen nicht so sehr die Frage gerichteter Einflußnahme auf bestimmte Intelligenz- oder Schulleistungsdimensionen im Vordergrund steht, sondern vielmehr die Möglichkeit, Behinderten im Aufbau und Verlauf allgemeiner Lernprozesse wirksam Hilfen geben zu können. Die Frage, ob diese Möglichkeiten auch bei hirngesunden und vor allem älteren Kindern besteht, ist noch offen. Ebenfalls offen ist auch die Frage, wie spezifisch in der Wirkung dieses Hirntraining sein kann, ob man davon auszugehen hat, daß sich damit nur sehr generalisierende "Weckreize" hervorrufen lassen oder ob es möglich ist, damit einen gezielten Anstieg kognitiver Fähigkeiten einzuleiten.

 

 

 

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