Realkennzeichen in Aussagen von Frauen

Zur Validierung der Kriterienorientierten Aussageanalyse für Zeugenaussagen von Vergewaltigungsopfern

Petra Wolf und Max Steller

Bei Glaubwürdigkeitsbegutachtungen von Zeugen durch psychologische Sachverständige stellt die Analyse des Aussageinhalts anhand sogenannter Realkennzeichen (Glaubwürdigkeitskriterien) das entscheidende Element dar. Die durch die Inhaltsanalyse festgestellte Qualität der Aussage (im Sinne von Komplexität und individueller Durchzeichnung) wird zur Glaubhaftigkeitseinschätzung mit der kognitiven Leistungsfähigkeit des Zeugen (seinen bereichsspezifischen Kenntnissen und Erfahrungen) in Beziehung gesetzt. Die Leitfrage der Glaubwürdigkeitsbegutachtung mit Hilfe der Inhaltsanalyse lautet, wie wahrscheinlich bzw. unwahrscheinlich es ist, daß ein Zeuge sich die Aussage auch ohne Erlebnisgrundlage ausgedacht haben kann (Arntzen 1993).
Staatsanwaltschaften und Gerichte fordern Glaubwürdigkeitsgutachten überwiegend bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung an (sexueller Mißbrauch von Kindern, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung), da hier häufig Aussage gegen Aussage steht. In welchen Fällen sich ein Gericht der (zusätzlichen) Sachkunde eines Gutachters zu bedienen hat, ist in der Rechtsprechung nicht eindeutig entschieden:

Einen Sachverständigen braucht der Richter ... regelmäßig nicht heranzuziehen. Das gilt vor allem, wenn die Glaubwürdigkeit von Zeugen zu prüfen ist, die erwachsen oder jedenfalls älter als 18 Jahre sind. ... Auch die Glaubwürdigkeit kindlicher oder jugendlicher Zeugen, gleichgültig, ob sie Opfer oder nur Beobachter einer Straftat sind, kann der Richter grundsätzlich ohne die Hilfe eines Sachverständigen beurteilen. Hier gelten jedoch größere Einschränkungen als bei erwachsenen Zeugen. (Alsberg, Nüse & Meyer 1983, S. 699 f.).

Nach den eigenen Erfahrungen überwiegen bei Aufträgen für Glaubwürdigkeitsgutachten eindeutig Fälle mit kindlichen Zeugen. Die Annahme einer extrem häufigen oder gar regelmäßigen Glaubwürdigkeitsbegutachtung von Kindern in Verfahren wegen Verdachts auf sexuellen Mißbrauch konnte in einer exemplarischen Analyse der Praxis von Berliner Gerichten im Jahre 1991 allerdings nicht bestätigt werden (Volbert & Busse 1995b). Glaubwürdigkeitsbegutachtungen bei erwachsenen Zeugen werden in eher relativ geringem Umfang bei speziellen Fragestellungen veranlaßt. Im Institut für Forensische Psychiatrie der Freien Universität Berlin betrug der Anteil von erwachsenen Zeuginnen und Zeugen bei den Glaubwürdigkeitsgutachten der Jahre 1985 bis 1994 etwa ein Fünftel (19%), wobei es sich überwiegend um Frauen handelte (siehe Tab. 1).
Die einleitend kurz erwähnte Vorgehensweise bei der Glaubwürdigkeitsbegutachtung mit dem Schwerpunkt auf der inhaltlichen Aussageanalyse wird in der Praxis sowohl bei kindlichen als auch bei erwachsenen Zeugen angewendet. Zur Operationalisierung der inhaltlichen Qualität glaubhafter Bekundungen wurden verschiedene Kriteriologien von Realkennzeichen vorgelegt (Arntzen 1993; Undeutsch 1967, 1983a, 1984). Zur Ermöglichung empirischer Forschung wurden die verschiedenen Beschreibungen von inhaltlichen Realkennzeichen in einem übersichtlichen System mit der Bezeichnung "Kriterienorientierte Aussageanalyse" (siehe Tab. 2) kategorisiert (Steller & Köhnken 1989).

Die Validität der Kriterienorientierten Aussageanalyse (in der Systematik von Steller & Köhnken 1989) ist in mehreren empirischen Studien überprüft worden. Dabei überwiegen Studien über Aussagen von Kindern, während nur vereinzelt Validitätsstudien mit Erwachsenen vorliegen. An Kindern gewonnene Befunde über qualitative Unterschiede zwischen erlebnisbegründeten und erfundenen Darstellungen sind aber wegen der höheren kognitiven Kompetenz von Erwachsenen nicht ohne weiteres auf diese zu übertragen. Im folgenden wird über eine Simulationsstudie berichtet, in der geprüft wurde, ob sich bei erwachsenen Frauen (als potentielle Opferzeugen in Vergewaltigungsfällen) ein qualitativer Unterschied zwischen erlebnisbegründeten und erfundenen Schilderungen über eine persönlich bedeutsame Erfahrung feststellen läßt.

Zum Stand der Forschung

Auf die Untersuchungen zur Validität der Kriterienorientierten Aussageanalyse, die mit Kindern als Aussagepersonen durchgeführt wurden, wird hier nicht im einzelnen eingegangen (Übersichten bei Horowitz 1991; Steller & Boychuk 1992; Steller, Weltershaus & Wolf 1992, sowie Steller, Volbert & Wellershaus 1993). Zur Validierung der Kriterienorientierten Aussageanalyse bei Erwachsenen liegen bisher die Ergebnisse von zwei Sirnulationsstudien (Köhnken & Schimmossek 1991; Landry & Brighain 1992) und von einer Feldstudie (Krahé & Kundrotas 1992) vor.
Köhnken und Schimmossek (1991) verwendeten Aussagen von 59 Erwachsenen im Alter von 19 bis 39 Jahren. Zur Simulation wahrer Aussagen sah die Hälfte der aussagenden Erwachsenen einen 12-minütigen Film über eine Blutspende; der anderen Hälfte wurde – zur Simulation einer Falschaussage – der Filminhalt lediglich verbal beschrieben, mit der Aufforderung, diesen später so wiederzugeben, als habe man den Film tatsächlich gesehen. Von den eine Woche später auf Tonträger aufgezeichneten Aussagen wurden Transkripte erstellt. Geschulte Rater unterzogen das Aussagematerial einer Kriterienorientierten Aussageanalyse. Der von Undeutsch (1967) postulierte qualitative Unterschied konnte an der Mehrzahl der verwendeten Realkennzeichen aufgezeigt werden.
In der Arbeit von Landry und Brigham (1992) basierte das Analysematerial auf sechs erlebnisbegründeten und sechs ausgedachten Aussagen von Studenten über traumatische Erlebnisse wie z.B. das Miterleben eines Todesfalles oder einer schweren Erkrankung nahestehender Personen oder das Erleben einer Vergewaltigung oder eines Raubüberfalls als Opfer. Alle Aussagen waren jeweils eineinhalb bis zwei Minuten lang und lagen sowohl als Transkript als auch als Videoaufzeichnung vor. Geschulte Rater analysierten das beschriebene Material, wobei die Bearbeitungszeit der Rater begrenzt war (drei Minuten pro Transkript bzw. Videoaufzeichnung). Auch in dieser Untersuchung konnte an der Mehrzahl der verwendeten Realkennzeichen ein qualitativer Unterschied im Sinne der von Undeutsch postulierten Hypothese aufgezeigt werden.
In beiden Simulationsstudien ist die Aussagethematik geeignet, einige Grundvariablen des forensisch relevanten Sachverhaltes "Erleben einer Vergewaltigung" abzubilden. Hinsichtlich der externen Validität der Arbeit von Köhnken und Schimmossek ist kritisch anzumerken, daß die in Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zentrale (und in der Undeutsch-Hypothese implizierte) Variable "Erleben" durch "Beobachten" (induziert durch das Filmparadigma) ersetzt wurde. Diesbezüglich ist das Paradigma von Landry und Brigham überlegen. Einbußen hinsichtlich der externen Validität ihrer Ergebnisse ergeben sich bei Landry und Brighain aber aufgrund der Kürze der analysierten Aussagen und der begrenzten Auswertungszeit.

 

 

 

 

 

© Verlagsgruppe Beltz, 1998
Letzte Änderung: 25.5.98
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