3.11 Zusammenhänge des Lebensalters mit der persönlichen Zukunftsperspektive

Mit wachsendem Alter sinkt die statistisch verbleibende Lebenszeit, es wächst das Risiko für gesundheitliche Einschränkungen und Hilfsbedürftigkeit (Lehr, 1991). Die Erfassung der Zukunftsperspektive ist bei Hochbetagten oft schwierig, denn ein Teil der Senioren spricht ungern über die persönliche Zukunft und weicht einer Auseinandersetzung aus (Dittmann-Kohli, 1994; Schneider, 1987). Arbeiten zur persönlichen Zukunftsperspektive konzentrieren sich auf zwei Bereiche:

• die Extension der Zukunftsperspektive, das zeitliche Ausmaß von Plänen, Hoffnungen und Befürchtungen über die eigene Zukunft und deren Dichte (Menge) sowie
• die Tönung, das Ausmaß positiver oder negativer Gefühle bezüglich der weiteren persönlichen Entwicklung.

Ältere Menschen sind – genau wie Jüngere – im Durchschnitt mehr gegenwarts- als vergangenheitsorientiert. Die nahe Zukunft ist für beide Altersgruppen subjektiv wichtiger als die entfernte Zukunft (Lowenthal et al., 1976; Riley & Foner, 1968).

Zukunftsplanung: In Studien zur Vorbereitung auf den (Vor-) Ruhestand berichteten Munnichs (1969) und Niederfranke (1987), daß 16% bzw. 50% Pläne für die Zeit nach dem Berufsausstieg hatten. Werden Personen ab dem Beginn des Seniorenalters (60+) untersucht, so nennen 60–70% Zukunftspläne (Kulys & Tobin, 1980; Schneider, 1989; Spence, 1968). In der Bonner Längsschnittstudie nannten 39.1 % der 75-84jährigen viele oder sehr viele Zukunftspläne, jedoch keiner der 85-94jährigen, von denen 81.2% allerdings einzelne Pläne thematisierten (Schneider, 1989). Cross & Markus (1991) erfragten erwünschte und gefürchtete zukünftige "Selbsts" in vier Altersgruppen (18-60+ Jahre). Die über 60jährigen nannten häufiger als die anderen Gruppen auf die körperliche Leistungsfähigkeit und den Lebensstil bezogene erwünschte als auch unerwünschte Selbstzustände. Diese betrafen vor allem die Themen Gesundheit und Selbständigkeit. In der Studie von Hooker (1992) nannten Ältere (55-89 Jahre) weniger erwünschte als auch unerwünschte mögliche zukünftige Selbstzustände im Vergleich zu Jüngeren (17-23 Jahre). Beide Gruppen unterschieden sich nicht in der Selbstwirksamkeitserwartung zur Erreichung erwünschter und Vermeidung unerwünschter zukünftiger Situationen. Dittmann-Kohli (1994) berichtete, daß sich viele Zukunftsgedanken der Senioren nicht auf die eigene Person, sondern auf das Wohl jüngerer Familienmitglieder zentrierten.

Schneider (1989) analysierte das zeitliche Ausmaß des Denkens an die Zukunft. Bei 75–84jährigen dachte 30.4% bis zu einem Jahr voraus, weitere 63.7% zwischen einem und fünf Jahren und 5.9% mehr als fünf Jahre. 85-94jährige dachten eher an die unmittelbare Zukunft. Es überwogen Gedanken, die nicht länger als ein Jahr vorausreichten (82%), die übrigen 18% Befragten wiesen eine Extension der Zukunftsperspektive von bis zu fünf Jahren auf. Kastenbaum (1982) gab in Auswertung einer eigenen Arbeit und unveröffentlichter Ergebnisse von Krajcir & Sundberg (1979) die Extension der Zukunftsperspektive Älterer mit 1.5 Jahren gegenüber vier Jahren bei Studenten an. Nurmi (1992) fand im Querschnitt eine höhere Extension von Zukunftsplänen und -interessen bis zum 54. Lebensjahr als bei 55-64 jährigen. Personen jenseits des 65. Lebensjahres wurden hier nicht untersucht.

Bei Querschnittsvergleichen sind natürlich immer Kohortenunterschiede zu berücksichtigen. Im Vergleich von Personen ab dem 65. Lebensjahr im Jahr 1957 und 1976 konnten z.B. Veroff et al. (1981) einen Zuwachs der berichteten Zukunftsplanung empirisch belegen. Die Trennung von Alters- und Kohorteneffekten bedarf weiterer Studien.

Niederfranke (1987) analysierte die emotionale Tönung der Zukunft von Vorruheständlern: 13% hatten extrem positive, 49% positive und weitere 25% neutrale Zukunftsvorstellungen. Für 13% war die Zukunft negativ getönt. Lehr (1967) gab für 60-75jährige eine positive Zukunftseinstellung für 76% der Männer und 58% der Frauen an. In der Studie von Obst (1991) überwog bei jungen Alten eine positive Sicht auf das weitere Leben. In Untersuchungen mit Hochbetagten trat dagegen eine positive Tönung der Zukunftsperspektive nur bei 39.1% der 75–84jährigen und für 27.3% der 85–94jährigen auf (Schneider, 1989). Eine eher negative Sicht auf ihre Zukunft hatten 30.4% der jüngeren und 27.3% der älteren Gruppe.

Metaanalysiert wird der Zusammenhang zwischen persönlicher Zukunftsperspektive und Lebensalter. Hierbei gehen im ersten Analyseschritt alle Arbeiten zur Zukunftsperspektive ein, danach wird nach Studien zur Extension und Tönung unterschieden.

Konsistent tritt mit wachsendem Alter eine geringere Extension/Zukunftsplanung und eine negativere Tönung der persönlichen Zukunftsperspektive auf. Es ist zu vermuten, daß intrapsychische Mechanismen zum Schutz des positiven Zukunftserlebens im Vergleich zu Selbstkonzept-Bereichen ohne systematische Altersunterschiede entweder weniger angewendet werden oder geringer wirksam sind. Daß auch auf die Zukunftsperspektive interpretative Prozesse wirken, zeigte jedoch die Studie von Dittmann-Kohli (1989, 1994): Zukunftswünsche waren bei Älteren mehr Erhaltungswünsche, z.B. bezüglich der Gesundheit, sozialen Beziehungen und sinnerfüllenden Aufgaben, während jüngere Menschen mehr positive Veränderungen wünschten.

3.12 Die Selbstaufmerksamkeit

Die Selbstaufmerksamkeit beschreibt die Tendenz, die Aufmerksamkeit vor allem auf die Umwelt oder aber auf die eigene Person zu lenken (Duval & Wicklund, 1972; Fenigstein et al., 1975). Gegenstand der privaten Selbstaufmerksamkeit sind Merkmale, die einem Beobachter nicht direkt zugänglich sind (Gefühle, körperliche Erregungszustände, Einstellungen, Gedanken etc.). In der öffentlichen Selbstaufmerksamkeit wird das Bewußtsein dagegen auf die äußerlich sichtbare Erscheinung gelenkt (Physis, Bekleidung, offenes Verhalten und deren Wirkungen auf andere Menschen). Erstere führt zu einer stärkeren Orientierung des Verhaltens an eigenen Einstellungen und Idealen, letztere an den Erwartungen der sozialen Umgebung. Die Selbstaufmerksamkeit ist gegenüber den bisher diskutierten Aspekten kein Inhalt des Selbstkonzepts, sondern beschreibt Prozesse der Suche und Äußerung selbstbezogener Informationen.

Unterscheiden sich Senioren von Jüngeren im Ausmaß der Selbstaufmerksamkeit? Das höhere Alter wurde z.B. im Rahmen der Disengagementtheorie (Cumming & Henry, 1961) und in der Reminiszenzforschung (Coleman, 1986) als Zeit einer stärkeren Innenwendung beschrieben. Eine erste Gruppe von Studien ermittelte keine Altersunterschiede: Demuth (1988) fand keine Unterschiede in der Selbstaufmerksamkeit von 62jährigen und einer jüngeren Vergleichsgruppe. Ross et al. (1989) fanden bei gesunden Senioren eine höhere öffentliche Selbstaufmerksamkeit in Bezug auf die körperliche Erscheinung im Vergleich zu jungen Erwachsenen. Schwartz & Kleemeier (1965) konnten bei kranken im Vergleich zu gesunden Senioren keine intensivere Beschäftigung mit sich selbst finden.

In einer zweiten Gruppe wurde eine Abnahme der Selbstbeobachtung bzw. Selbstreflexion im Alter gefunden: In der Studie von Mueller & Ross (1984) wiesen Senioren geringere Werte in der öffentlichen und privaten Selbstaufmerksamkeit als junge Erwachsene auf. Reifman et al. (1989) fanden im Querschnitt von 18-73 Jahren eine geringere Tendenz Älterer zur Selbstbeobachtung. Veroff et al. (1981) berichteten, daß Ältere weniger als Jüngere bereit waren, den Fokus der Aufmerksamkeit auf die eigene Person zu lenken. Dittmann-Kohli (1994) fand signifikant weniger selbstreflexive Aussagen in der freien Selbstbeschreibung von Senioren im Vergleich zu jungen Erwachsenen. Hansell & Mechanic (1991) ermittelten einen leicht negativen Zusammenhang des Lebensalters mit der Aufmerksamkeit auf körperliche Prozesse.

3.13 Zusammenfassung

Werden Zusammenhänge des Selbstkonzepts mit dem Lebensalter untersucht, so kann mit Ausnahme des subjektiven Alters und der persönlichen Zukunftsperspektive – nicht das Lebensalter per se als Ursache für Selbstkonzept-Änderungen interpretiert werden. Es ist statt dessen nach altersassoziierten Veränderungen der Lebenssituation und der Auseinandersetzung mit dieser zu suchen, um eine Änderung des Selbstkonzepts vorherzusagen.

 

 

 

 

 

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