Gefühle, Ungewissheit und Individualität

Als Ute Frevert im Jahr 2008 aus Yale nach Deutschland zurückkam, um als Direktorin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPIB) in Berlin den Bereich »Geschichte der Gefühle« aufzubauen, da erntete sie erst mal Skepsis. Bestenfalls. »Geschichte der Gefühle?« Die Psychologen fragten, was daran denn Geschichte sein soll. »Gefühle sind Gefühle sind Gefühle«, hörte sie von allen Seiten. Auch aus ihrer eigenen Zunft, von den Historikern, kamen überwiegend Seufzer: »Mein Gott, Gefühle, auch das noch. Kann es noch ein bisschen weicher sein?«

Fehler sind intelligent

Aber das Weiche erweist sich manchmal als das Hartnäckigste. Zum Beispiel Fehlerkulturen. Die hat sich Gerd Gigerenzer, ein anderer der vier MPIB-Direktoren, vorgenommen. Der Vergleich von Krankenhäusern und Luftfahrt offenbart zwei Welten, wohl auch weil Kapitäne, anders als Chirurgen, mit abstürzen würden. 17 000 Menschen sterben jedes Jahr in deutschen Krankenhäusern »durch vermeidbare und dokumentierbare Fehler«, haben er und seine Kollegen errechnet. Nicht die Fehler sind das Problem, sondern ihre Verleugnung. Wenn bei der Lufthansa aus Fehlern nicht gelernt würde, wären die Folgen verheerend. In Krankenhäusern sieht man das offenbar anders.

Gigerenzers These: Fehler enthalten wesentliche Informationen. Wenn sie vertuscht werden, bringt man sich um eine enorme Erkenntnisquelle. »Ein intelligentes System, das keine Fehler macht, ist gar kein intelligentes System«.

Fehler und Gefühle sind Wege, auf denen sich das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung heute dem alten Thema Bildung neu nähert. Viele Beobachter meinen ja, nach der Emeritierung von Pisa-Papst Jürgen Baumert fände dort eigentlich gar keine Bildungsforschung mehr statt. Und tatsächlich, wenn man sich die Namen der vier Forschungsbereiche ansieht, vermisst man ausgerechnet ein Wort, Bildung. Stattdessen: Adap­tives Verhalten und Kognition, adaptive Rationalität, Entwicklungspsychologie und eben die Geschichte der Gefühle. Wo ist die Bildung geblieben? Das fragte ich mich auch, als ich gefragt wurde für die Festveranstaltung zum 50-jährigen Jubiläum des Instituts Einspielfilme zu drehen. Und so nannte ich die filmische Annäherung an 50 Jahre MPIB dann auch: »Was heißt hier Bildung?«¹ Aber nach vielen Gesprächen und Beobachtungen, und dann noch mal Wochen der Sichtung und des Schnitts ist ein anderes Bild entstanden. Am MPIB wird der heimliche Lehrplan einer anderen Schule vorgedacht, allerdings ohne ihn bisher so zu nennen.

Was wären das für Schulen, die der Maxime folgen, dass man Fehler machen darf? Ja, machen muss, um gute Lösungen zu finden! »Und auch mal scheitern und wieder von vorne anfangen, um aktiv zu denken.«

Nichtwissen ist normal

Gehen wir ein paar Räume weiter zu ­Ralph Hertwig. Der Psychologe ist erst seit kurzem MPI-Direktor. Er arbeitet unter anderem über Schwarmintelligenz und darüber, wie wir mit unsicherem Wissen – und unsicher ist es zumeist – Entscheidungen treffen. Was lehrt die Geschichte von mehreren hundert Bauern, die das Gewicht eines Bullen schätzen sollten und die es zusammen, also im Schnitt, haargenau treffen, obwohl jeder Einzelne daneben liegt? Auch jeder Einzelne ist nicht nur einer. Er oder sie hat gewöhnlich zu einem Problem mehrere Meinungen. Was geschieht, wenn man diese Pluralität zulässt? Wenn man diese Stimmen sogar miteinander ins Gespräch bringt? Wenn man sich nicht vorschnell dem Joch von richtig oder falsch beugt? »Jeder hat einen Kosmos in sich«, sagt Hertwig, »Bildung muss diesen Kosmos fördern und uns einladen, damit positiv umzugehen.«

Ralph Hertwig wünscht sich eine Schule, in der Kinder sagen dürfen: »Ich weiß das nicht.« Denn es gäbe doch viel mehr Bereiche, in denen wir nichts wissen, als solche, in denen wir viel wissen. Nicht zuletzt deshalb machten wir uns Modelle. »Aber jedes Modell hat Fehler, ist genau genommen falsch.«

Aufregend ist auch die Entwicklungspsychologie, der vierte Forschungsbereich, den Ulman Lindenberger leitet. Noch so ein eigenwilliger Psychologe. Er untersucht gerade im Kernspin Rechtshänder, die üben, mit links zu schreiben, und entdeckt dabei eine keineswegs lineare Lernkurve. Erste Trainingseffekte schnellen hoch und lassen bald wieder nach. Dafür treten Veränderungen der kontralateralen Hirnhälfte auf. Bei Übungen mit der linken Hand gibt es nun Veränderungen in der rechten Hirnhälfte. »Wir können jetzt eine dynamische Geschichte erzählen. Auf einmal fängt der Film an sich zu bewegen.« Lindenberger spricht von der »Plastizität der Plastizität«. Ein anderes Wort für die einmalige und unverwechselbare individuelle Entwicklung.

Kürzlich hat er 40 Mäuse mit identischen Genen beobachtet. Sie lebten in dem gleichen großen, anregungsreichen Käfig. Jede hatte einen kleinen Sender im Nacken, so dass die Forscher beobachten konnten, wie sich ihr Neugierverhalten verändert: Um den Faktor 22 sind die individuellen Unterschiede dieser genetisch identischen Mäuse während des Beobachtungszeitraumes gestiegen. »Es sieht so aus, als ob die Entwicklung selbst eine Quelle individueller Unterschiede ist.«

PS
Das war jetzt ein Schlaglicht auf die Gegenwart des Instituts. Betrachtet man die 50-jährige Geschichte, dann erscheint es als großer, autodidaktischer Selbstversuch. Jürgen Baumert ist Altphilologe. Wolfgang Edelstein, der von Anfang an dabei ist, ist Linguist und gesteht: »Wir hatten keine Ahnung.« Bei Forschern und allen anderen Lernenden gibt es keine linearen Verläufe. 

PPS
Kritik, Zustimmung oder Brainstorming: www.redaktion-paedagogik.de


Aus: Pädagogik 11/2013