»Die Kinder machen, was sie wollen.« Sie machen, was sie wollen? Die Bedeutung hängt wieder mal an der Betonung. In der Villa Monte klingt der Satz hell und freudig, auch bewundernd und stolz. Keine raunende Abwertung des Wollens. Keine Angst vor dem Chaos, wenn »jeder macht, was er will.« Einzelne Kinder machen dort aber selten etwas ganz allein. Man sieht sie zumeist in Rudeln. Auch wenn ein Kind ganz für sich ist, liest oder vor sich hin sinniert – bei Erwachsenen nennt man das Denken – führt diese zeitweilige Verinnerlichung irgendwann zu Gesprächen. Gespräche, denen man ihre Ernsthaftigkeit und Intimität von weitem ansieht. Der Takt gebietet es dann dem neugierigen Besucher Abstand zu halten. Für die Erwachsenen in der Villa Monte ist dieser Takt ohnehin Gesetz.
Wollen
Den Verzicht darauf, Kindern rein zu regieren, verstehen viele Pädagogen nicht. Auch ich spürte dort eine innere Drift, diese Macht, etwas zu wollen, erst mal den Erwachsenen vorzubehalten. Die Vorstellung, dass Ordnung von außen kommt und diese Angst vor dem Jeder-macht-was-er-will stecken uns in den Knochen. Wenn Erziehung die Zähmung der Barbaren sein soll, was sogar Sigmund Freud noch meinte, wäre sie daran zu erkennen, dass sie den Kindern gegen den Strich geht.
Ich habe die befürchtete Willkür des kindlichen Eigensinns dort nicht erlebt. Im Gegenteil. Die Kinder handeln aus, was sie machen wollen. Und plötzlich kommt dann der Sog auf, in den nahen Wald zu rennen oder Hütten zu bauen oder sich um das Mathematerial herum zu scharen oder Papierschwalben zu falten und dann das Faltmuster tagelang zu perfektionieren. Als gäbe es geheime Kanäle zum Expertenwissen, werden die Schwalben immer raffinierter – ohne jeden Lehrplan. Auch Kinder, die lesen – sie lesen wie Erwachsene zumeist allein – haben zuvor häufig diskutiert, welches Buch als nächstes dran ist. Anschließend werden sie vielleicht über ihre Lektüre reden oder ihre Gedanken erst mal für sich behalten. Wer weiß.
Man sieht die Kinder bei vielen Tätigkeiten und dann wieder zum nächsten Ziel rennen. Dieser wunderschöne Laufschritt von Kindern, die begeistert sind! In Gesprächen haben sie den gleichen Ernst wie beim Spiel. Es wird hier so sonnenklar, dass das Spielen der Kinder keine »bloße« Spielerei im Gegensatz zum »richtigen« Lernen ist, das der Vorbereitung auf den »Ernst des späteren Lebens« dient. Wo bleiben in den auf das »spätere Leben« verweisenden Schulen das jetzige Leben und die wache Gegenwart, aus der Zukunft entspringt? Radikale Gegenwart ist in der Villa Monte eine alles überwölbende und vieles ermöglichende Atmosphäre.
Lernen
Die Kinder lernen – auch wenn Lernen nicht drauf steht. Oder lernen sie sogar besser, wenn jedes Kind auf seine einzigartige Weise lernt? Lernen als etwas Intimes, zutiefst eigenes und zugleich der Welt Zugewandtes – wie die Liebe? Was ist den Kindern ihr Nächstes? Und wie machen sie ihre nächsten Schritte? Wie kommen sie auf das, was sie wollen? Wie entsteht etwas in und vor allem zwischen ihnen? Wie kommen sie immer wieder zur Welt und wie kommt die Welt zu ihnen? Die Welt, nicht die fertige Welt, nicht der in Klarsichtfolien verpackte Unterrichtsstoff! Viele Schulen verabschieden sich heute vom Gleichschritt des Unterrichts. Okay. Aber was würde es bedeuten, Kindern ihre eigenen Wege zu gestatten? Das sind Fragen, die mir selten so klar wurden und so schön leuchteten wie bei diesem Besuch.
So viele produktive Irritationen! Noch mal die aus dem letzten P. S.: Draußen erst die »Waffenkammer« und dann drinnen der Friede. Jemand, der in der Schule matheabstinent blieb und Informatiker mit erfolgreicher Firma wurde. Die Dauerirritation: eine Schule, die wie ein traumhafter Kindergarten aussieht. Und dann die Tatsache, dass die Pubertät dort verzögert einsetzt.
Irritierend sind auch die vielen Tierfiguren. Es müssen Hunderte sein. Vielleicht sogar mehr als tausend handgroße Löwen, Kühe, Pferde oder Urtiere. Wohl geordnet stehen sie auf Anrichten, in Regalen oder auf Tischen. Die Kinder nehmen sie in die Hand und sie spielen, spielen, spielen. Was eigentlich? Sie werden mit den Tieren selbst zu diesen Tieren. So spielen Kinder, wenn sie artgerecht aufwachsen. Kinder dürfen das, aber Schulkinder? Eher nicht. Dürfen es Kindergartenkinder immer noch, wenn erst mal Forscherkisten eingetroffen sind und sich in der Ausbildung der Erzieher die Didaktik ausgebreitet hat?
Verwandeln
Während ich beobachte, wie die Kinder Tiere imitieren, fällt mir der große Elias Canetti ein. Eine seiner poetisch spekulativen Ideen in »Masse und Macht« und in vielen seiner aphoristischen Aufzeichnungen war, dass Menschen alles, was sie im Laufe ihrer Gattungsgeschichte geworden sind, Tieren verdanken, in die sich unsere Vorderen nachahmend und imaginär verwandelt haben. Verwandeln, das ist eines der häufig verwendeten und immer wieder verwandelten Wörter von Elias Canetti. Spielen Kinder diese Evolution nach, wenn sie Tiere nicht nur imitieren, sondern sie sich auf unsere spezifisch menschliche Weise, voller Phantasien, begeistert und dabei sich selbst und die Welt entwerfend in vielfältige Kreaturen verwandeln? Wäre Verwandeln nicht sogar das bessere Wort für Lernen?
PS
»Die schrecklichste aller Welten«, notierte Elias Canetti, »wäre eine ohne Tiere.« Während ich mir am Mittagstisch Notizen mache, kommen Kinder mit einem Konzert von Tierlauten zum Essen gekrabbelt.
PPS
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* Das P. S. Villa Monte 1: www.redaktion-paedagogik.de/2015/02/die-villa-monte-1
Aus: Pädagogik 3/2015