Es ist eine kleine Schule für 200 Kinder und Jugendliche. Elf Lehrer unterrichten sie, vom Erstklässler bis zum Abiturienten. Zu Hause sind es brave Schüler, Schulverweigerer oder Überflieger. Sie sind Grundschüler, Realschüler, Hauptschüler, Berufsschüler und Gymnasiasten. In Oberjoch gehen sie in gemeinsame Klassen. Die Klassen sind auch vom Alter her gemischt. Eine Schule, wie sie in Deutschland nicht für möglich gehalten wird, oder zumindest für hoffnungslos ineffektiv. Die Sophie-Scholl-Schule in Oberjoch bekam am 9. Juni aus der Hand der Bundeskanzlerin den Hauptpreis des Deutschen Schulpreises.
Oberjoch?
In dem höchsten Bergdorf in Deutschland liegt eine Rehaklinik, in der Kinder mit Herz- und Lungenleiden behandelt werden. Während der Kur besuchen sie die zum Krankenhaus gehörende Sophie-Scholl-Schule. Das dauert gewöhnlich vier bis acht Wochen. Außerdem gibt es eine Handvoll sogenannter Langzeitschüler. Das hört sich nicht besonders spektakulär an. Man muss genau hin gucken.
Jeden zweiten Donnerstag kommen die Neuen, um ihre Kur anzutreten. Die von der Heimatschule präparierten Ranzen und Rücksäcke werden im Flur vor dem Lehrerzimmer abgestellt. Darin sind Berichte über die Schüler und über den aktuellen Stoff, Hefte und Schulbücher. Übers Wochenende wird das alles von einem Lehrerteam studiert. Für jeden Schüler wird ein Wochenplan erstellt. Dabei haben die Pädagogen ein Verfahren entwickelt, wodurch die jeweiligen Klassenlehrer möglichst nicht erfahren, von welcher Schulart die Neuen kommen. Aber über die Schüler, über die Person, wollen sie möglichst viel wissen. Dabei sind die Lehrer der Sophie-Scholl-Schule immer wieder überrascht, wie wenig die Kollegen der Heimatschulen die häufig seit Jahren von ihnen unterrichteten Schüler kennen. Manche Spalte auf dem von der Sophie-Scholl-Schule verschickten Fragebogen bleibt leer. So gibt es selten Auskunft über das Hörvermögen und dessen eventuelle Beeinträchtigungen. Stattdessen steht da zum Beispiel »Bin ich vielleicht der Arzt?«
Chinesisch
Am Montag finden sich die Neuen inmitten der schon eingespielten Gesellschaft von Kindern und Jugendlichen, die schon wissen, wie es hier läuft. Jeder arbeitet morgens für sich an seinen Aufgaben. Wer nicht weiter weiß, geht nicht zum Lehrer, sondern sucht erst mal Hilfe bei anderen Kindern. Die Lehrer halten sich zurück. Das führt in den ersten Tagen regelmäßig zu Beschwerden, erzählt die Schulleiterin Angela Dombrowski. Schüler beklagen sich, dass die Lehrer nicht arbeiten, aber sie selbst dafür so viel arbeiten müssten. Auf die freie Arbeit folgen Projekte, zum Beispiel Chinesisch. Alles ist da erst mal für alle neu.Mit der Lehrerin Susanne Pöhlmann werden Wörter geübt. Das ist schwer.Aber die Regeln der Grammatik sind einfach. Weisheiten von Konfuzius werden studiert. Und plötzlich kommt Neugierde auf. Bei allen. Wenn auch nicht bei allen sofort. Kinder sieht man in diesem leicht beschleunigten Hüpflauf, der untrüglich Begeisterung anzeigt. Dabei müssen immerzu Schüler den Unterricht zu Anwendungen in der Klinik verlassen. Aber sobald sie zurückkommen, geht es weiter. Die Kinder werden in den Tagen und Wochen immer hungriger auf die Angebote der Schule und auf das, was die Schulleiterin »das Wollen leben« nennt. Selbst etwas zu wollen, das ist nicht banal. Dafür eine Atmosphäre zu schaffen, das ist die Kernidee der Schule. Auch die anfangs großen Sorgen der Eltern – die meisten Kinder werden während der Kur begleitet –, ihre große Angst, dass man in dieser Schule nicht richtig lerne, verdunstet wie der Morgentau in den Kalkalpen, auf die man von der Schule blickt.
Wunder
Die Jury des Schulpreises hat sich allerdings mit der unvermeidlichen Begeisterung, die auf Besucher überspringt, nicht zufriedengegeben, zumal bei den sechs Kriterien des Schulpreises Leistung an erster Stelle steht. Sie hat herausgefunden, dass die Schüler, wenn sie wieder zurückgekehrt sind, häufig mit dem aufgegebenen Stoff weiter sind als jene in der Heimatschule. Katharina Burger-Springwald, die bei der Robert Bosch-Stiftung den Schulpreis leitet und die Schule in Oberjoch besucht hat, erinnert an eine Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung über ein dreiwöchiges Sommercamp für Migrantenkinder in Bremen. Bei den Kindern wurde danach ein Fortschritt in der Sprachkompetenz gemessen, der über dem üblichen Fortschritt eines Schuljahres liegt. Man sprach vom »Wunder in Bremen«. Wer die Wachheit der Schüler im Oberjocher Gasthaus des Lernens erlebt, wundert sich gar nicht mehr. Da sind zum Beispiel Kinder, berichtet Angela Dombrowski, die Schulleiterin, die nach Jahren erneut zur Kur kommen und sich noch an lauter Einzelheiten aus dem Unterricht genau erinnern.
Anfangen
Als sie in der Schule vor mehr als zehn Jahren als Lehrerin anfing, saßen im Lehrerzimmer rechts die Gymnasial- und Realschullehrer und auf der anderen Seite die anderen. »Die kannten nicht mal ihre Vornamen.« Die Schule war wie ein Nachhilfeinstitut, erinnert sie sich. Das war nicht die »Individualisierung des Lernens«, die sie meint. Das war ein Füttern mit Stoff. Häppchen für Häppchen. Individualisierung des Lernens, die sie meint, heißt, die Schüler sollen sich ihr Wissen aktiv erarbeiten. Sie sollen handeln. Sie sollen auch üben. Sie sollen bis an ihre Grenzen gehen und darüber hinaus wachsen.
PS
Bis an die Grenzen und darüber hinaus wachsen, das macht das Kollegium mit sich, gewissermaßen als Selbstversuch. Manchmal kommt ein Kind an die Schule, für das macht eine Lehrerin extra eine Fortbildung. Aber von solchen Kindern, sagen die Lehrer, lernen wir am meisten.
PPS
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