Inklusion ist ein Menschenrecht. Bundestag und Bundesrat haben der UN-Behindertenrechtskonvention einstimmig zugestimmt. Was bedeutet das für Schulen? Was können sie tun und was muss noch getan werden, damit gemeinsames Lernen und individuell optimale Förderung für alle Kinder gelingen können? Der Einführungsbeitrag skizziert Chancen und Probleme und stellt die Schulen vor, die in diesem Heft zu Wort kommen.

Blitzlichter: Kinder in ihren Schulen

Jessika besucht die Klasse 4. Sie, ihre Klassenlehrerin, eine Sonderpädagogin und ihre Eltern beraten gemeinsam, wie sie im nächsten Schuljahr gut weiter lernen kann, und vereinbaren Ziele. Sie braucht und bekommt viel Unterstützung beim Schreiben und Lesen. Ihre Lehrerinnen sind zuversichtlich und machen ihr Mut.

Jonathan ist ein »Slow Learner«. Aber in seinem Gymnasium sind sie alle darauf eingestellt, ihn zu unterstützen und mitzunehmen. Gruppenaufgaben sind so gestellt, dass alle an der Lösung mitwirken müssen. Davon profitieren auch und vor allem die Schnelleren.

Lars erzählt seinen Mitschülern, warum es für ihn so schwer war, verständlich sprechen zu lernen, und bittet um ein Feedback zu seiner Präsentation. In seiner Klasse werden solche Probleme offen angesprochen. Alle können darauf vertrauen, von den anderen ernst genommen und unterstützt zu werden.

Katharina ist schwach in Mathematik, aber eine sehr begabte Tänzerin und findet in ihrer Schule Unterstützung in allen Bereichen. Sie kann ihren Stundenplan so zusammenstellen, dass ihre Stärken zum Tragen kommen, und weiß, dass sie in den Hauptfächern unterstützt und gefördert wird.

Christian hat mehrfache Entwicklungsstörungen, kann aber in seiner Schule in eine »ganz normale« Klasse gehen. Hier ist es »normal«, dass Kinder mit teilweise schweren oder mehrfachen Behinderungen zusammen mit den anderen leben und lernen.

Justin geht in die 5. Klasse eines Gymnasiums und ist Mitglied einer Schulentwicklungsgruppe, die über die Aufnahme von Kindern mit Förderbedarf berät. Er wird sich dafür einsetzen, weil er Kinder mit Behinderungen kennt und sie gern in seiner Klasse hätte.

Burcu hat Förderbedarf im Schwerpunkt »Lernen« und entwickelt plötzlich als Geschäftsführerin eines Cafés ungeahnte Fähigkeiten. Da ist sie nicht »behindert«, sondern ein Naturtalent.

Von solchen Kindern, ihren Besonderheiten, Fähigkeiten, Problemen und Begabungen ist in diesem Heft nur am Rande die Rede. Eigentlich aber geht es in allen Berichten um sie. Ihre Schulen sind sehr unterschiedlich, haben aber eines gemeinsam: Sie sind auf dem Weg zur Inklusion, wollen Ernst machen mit dem Satz, dass kein Schüler/keine Schülerin verloren gehen oder ausgegrenzt werden darf.

Einige dieser Schulen können auf eine langjährige Entwicklung zurückblicken, andere stehen erst am Anfang. Keine dieser Schulen tut all das, was die anderen schon entwickelt haben. Jede hat es aber mit allen Aufgaben zu tun, die mit Inklusion verbunden sind, und muss ihre eigenen Lösungen entwickeln.

Ein Ziel und viele Fragen

Selten hat es eine solche Einmütigkeit im deutschen Bildungswesen gegeben. Bundesrat und Bundestag haben 2008 einstimmig die UN-Behindertenrechtskonvention übernommen. Aber was bedeutet dieser Beschluss und was folgt daraus? Im Auftrag der Landesregierung haben Klaus Klemm und Ulf Preuss-Lausitz ein Gutachten für Nordrhein-Westfalen vorgelegt (2011). Für sie bedeutet die UN-BRK, »… dass die Vereinten Nationen davon ausgehen, dass alle Kinder mit Behinderungen ein Recht haben, innerhalb eines allgemeinen, inklusiven, kostenlosen, wohnortnahen und auf Diversität setzenden Bildungssystems aufzuwachsen und dabei die nötige Unterstützung erhalten« (S. 9).

In allen Bundesländern wird gegenwärtig daran gearbeitet, Wege zur konkreten Umsetzung des allgemein bejahten Ziels zu finden. Und die sind höchst unterschiedlich. Es gibt einen Systemwiderspruch, den Birgit Lütje-Klose in ihrem Hintergrundbeitrag zu diesem Heft-Schwerpunkt klar benennt: »Das Konzept der inklusiven Bildung trifft in Deutschland auf ein strukturell selektives Schulsystem«. Insofern sieht sie »Inklusion als Herausforderung an das Bildungssystem«. Sie skizziert den Stand der Entwicklung in Deutschland, gibt einen »Überblick über Forschungsergebnisse zu inklusiver und separativer Beschulung« und leitet daraus »Anforderungen an inklusive Schulen« ab (siehe S. 34 ff.).

Viele Fragen brennen Lehrerinnen und Lehrern auf den Nägeln. Und nicht nur ihnen – die administrativen und organisatorischen Vorgaben müssen von den Regierungen gesichert werden. Wie kann gemeinsames Lernen mit teilweise extrem unterschiedlichen Kindern gelingen? Wie werden die Ziele definiert: gleich oder different? Welche Instrumente und Verfahren brauchen eine prozessorientierte Förderdiagnostik und eine individualisierende Leistungsbewertung? Wie können die Lehrerinnen und Lehrer für diese Prozesse qualifiziert werden? Woher kommen die notwendigen Ressourcen? Wie muss die Schule ausgestattet sein und wie sind die Rahmenbedingungen zu gestalten? Wie können Gruppen zusammengesetzt werden und wie sieht ein förderliches Klima aus?

In dem erwähnten Gutachten sind Klemm und Preuss-Lausitz ausführlich und auf der Grundlage gesicherter Forschungsbefunde auf alle diese Fragen eingegangen. Sie betonen, dass es in der Frage, was guter Unterricht sei, keinen prinzipiellen Unterschied zwischen inklusiven und nicht inklusiven Schulen gebe: »Der Weg zu einem guten inklusiven, die vorhandene Vielfalt produktiv aufgreifenden Unterricht ist auch ein Unterricht, der für alle Schülerinnen und Schüler ›Gewinne‹ abwirft. Das gilt für alle Schulstufen und Schularten« (S. 49 f.). Konsequent fordern sie, dass alle Schulen sich in diese Richtung entwickeln, alle Lehrerinnen und Lehrer das Handwerk der Individualisierung (neu) lernen müssen.

Gibt es eine »inklusive Didaktik«?

In ihrem Beitrag zur »Pädagogik«-Serie »Inklusion« skizziert Simone Seitz »inklusive Didaktik« als »eine Didaktik der Potenzialität« (S. 45). Daher sei auch die Förderung von Begabungen aller Schülerinnen und Schüler Aufgabe inklusiver Schulen. Das häufig als »Spezialmaßnahme« für begabte Schülerinnen und Schüler geltende Prinzip des enrichment (besonders herausfordernde Aufgaben) müsse für sie selbstverständlich sein.

Aber gelten diese Forderungen »exklusiv« für inklusive Schulen? Ich glaube im Sinne der Autorin zu antworten: nein. Es gibt guten oder weniger guten Unterricht, gemessen an der Frage, ob und wie er alle Schülerinnen und Schüler erreicht. Was z. B. Andreas Helmke unter »adaptivem Unterricht« versteht, lässt sich ohne weiteres auf inklusive Schulen übertragen. Allerdings macht es für die Rolle der Lehrerinnen und Lehrer einen entscheidenden Unterschied, ob sie als »Herren des Verfahrens« die Lernprozesse aller Kinder lückenlos planen, arrangieren, steuern und kontrollieren, oder ob sie, wie Seitz schreibt, den Unterricht mit einer »Aufforderung zur diskursiven Auseinandersetzung« offen beginnen und dann beobachten, welche unterschiedlichen Dialoge und Lösungswege die Kinder zu der »fundamentalen Grundidee« entwickeln. Darin, so Seitz, liege »das spezifische Potenzial inklusiven Unterrichts« (S. 45).

Demnach sind es die Lehrerinnen und Lehrer, von denen das Gelingen inklusiven Unterrichts – allgemein: jeden Unterrichts – abhängt. Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber, wie in vielen Fortbildungsveranstaltungen der Reihe »Werkstatt Individualisierung« zu erleben war (v. d. Groeben/Kaiser 2012), sehr schwer in die Praxis umzusetzen. Zu groß ist das Bedürfnis nach »Sicherheit«, die Angst, Normen nicht gerecht zu werden, auch die Angst vor Überforderung durch »die Behinderten« und »die Schwierigen«. Ein erlebtes Beispiel: An einer Sekundarschule soll Inklusion eingeführt werden. Dazu werden Sonderpädagogen aus einer Förderschule abgeordnet. Die wollen nicht, losen aus, wer gehen »muss«. Das Los trifft eine Lehrerin, deren Schulweg sich dadurch verdoppelt. Hinzu kommt, dass der Förderschwerpunkt, für den sie ausgebildet ist, an der neuen Schule nicht vorkommt, dass sie also ihre professionelle Kompetenz nur partiell einbringen kann. Sie erlebt dort, dass Kolleginnen und Kollegen ihren Unterricht wie gewohnt veranstalten und die »Inklusionskinder« in einen Nachbarraum schicken, wo sie diese »fördern« soll. – Zugegeben: Dieser Fall ist sicher eine Ausnahme. Hier kommt so ziemlich alles zusammen, was nicht sein darf. Aber das Beispiel zeigt zugleich, was alles sich in Schulen ändern müsste, anders gesagt, welche Barrieren einer gelingenden Inklusion entgegenstehen.

Verhinderungen und Herausforderungen

Warum, wenn doch alle über das Ziel einig sind, ändert sich die Unterrichts- und Schulpraxis bisher so wenig in Richtung Inklusion? Abb. 1 enthält eine Aufzählung der (aus meiner Sicht) größten Verhinderungen.

Diese Aufzählung mag zeigen, dass es weder selbstverständlich noch leicht ist, Inklusion einzuführen. Die Ängste, Zweifel und Nöte von Lehrerinnen und Lehrern und ebenso die von Eltern sind unbedingt ernst zu nehmen, denn ohne oder gar gegen sie geht gar nichts. So wäre einem Lehrer, der sagt, ein geistig behinderter Schüler könne doch unmöglich mit Gymnasiasten Kant lesen, erst einmal recht zu geben: Ein solches Arrangement wäre unsinnig. Wenn der Kollege aber zuzugeben bereit wäre, dass die »Allmacht« von Lehrern, die zu wissen glauben und vorab entscheiden, was ein Schüler können kann und was nicht, noch kontraproduktiver ist, wäre ein erster Schritt getan. Den Unterricht im Sinne von Seitz (s. o.) diskursiv anzulegen, könnte für ihn mit erstaunlichen Überraschungen verbunden sein darüber, was Kinder leisten können, wenn man sie lässt und herausfordert. Am Ende könnte ein verändertes Rollenverständnis stehen: »inklusiv« unterrichten heißt, Aufgaben auf Vielfalt anzulegen, unterschiedliche Wege zu ermöglichen und zu sehen, was erreichbar ist, wenn alle Schülerinnen und Schüler gefordert sind, ihre individuelle Bestleistung zu erbringen, und dabei professionell unterstützt werden.

Dieses Umdenken und Umlernen – von vorab festgelegten Plänen und Anforderungen hin zu einer Didaktik der Ermöglichung – ist die größte Herausforderung an unsere Profession, in allen Schulen. In einem Abschnitt über »Dimensionen diagnostischer Lehrerurteile« schreibt Andreas Helmke dazu: »Die Diagnose des Potenzials einer Person ist nichts anderes als die Einschätzung, was diese Person unter günstigen Umständen, z. B. bei strukturierter und dosierter Hilfeleistung (scaffolding) zu leisten imstande wäre. Zugrunde liegt hier ein dynamisches Prinzip. Zu beurteilen ist nicht der Ist-Stand, also die aktuelle Leistung, sondern der maximal erreichbare Leistungsstand« (Helmke 2012, S. 133). Eine zwingende Konsequenz daraus: Regelstandards, denen viele Schülerinnen und Schüler nicht genügen können, durch Mindeststandards zu ersetzen (ebd., S. 259).

In diesem Sinne stellt die Einführung von Inklusion eine große, um nicht zu sagen unerhörte Herausforderung dar: an alle Lehrerinnen und Lehrer und ihr professionelles Wissen und Können, an alle pädagogischen Professionen, die sich neu zusammenfinden und voneinander lernen müssen, an die Schulen, an die Erziehungswissenschaft, die ebenso von der Praxis lernen muss wie umgekehrt, an die Bildungsadministration, die mehr ermöglichen und weniger vorschreiben muss, mit einem Wort: an unser Bildungssystem. Wie viele Autoren zu Recht betonen, Inklusion ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe (Hillenbrand 2012, S. 44).

Wege zur Inklusion: ein »bunter Strauß«?

Die Schulen, die in diesem Heft zu Wort kommen, stehen für sehr viele andere, die sich in ähnlicher Weise auf den Weg gemacht haben. Alle verfolgen das gleiche Ziel, und jede hat eigene Besonderheiten entwickelt.

  • Die Martinschule in Greifswald entstand nach der Wende. Benjamin Skladny, bis heute Schulleiter, holte damals in Heimen weggesperrte Kinder in seine Schule, die in der DDR als »förderunfähig« galten, und berichtet über den weiteren Weg der Schule. Später kamen »normale« Kinder dazu. Heute führt die Schule bis zum Abitur.
  • Die Hamburger Stadtteilschule Mümmelmannsberg blickt auf eine lange Gesamtschultradition zurück. Aus den Erfahrungen mit Integrationsklassen entwickelte sich ein Inklusionskonzept. Bei über 40 Kulturen und einer ungewöhnlichen Häufung von Lebens- und Lernproblemen heißt das auch und vor allem, die Schule zur familiären Umwelt zu machen, die diesen Kindern fehlt. Kerstin Arndt und Aurelia Pertek berichten.
    Das Geschwister-Scholl-Gymnasium in Pulheim bemüht sich verstärkt um Unterstützung für Schülerinnen und Schüler, die sich mit den gymnasialen Anforderungen schwer tun. Nun soll ein nächster Schritt versucht werden: Klassen mit Gemeinsamem Unterricht. Der Schulleiter Andreas Niessen berichtet.
  • Karen Beckmann und Barbara Sanders-Mowka berichten von ihren Erfahrungen in Gemeinschaftsschulen in Schleswig-Holstein. Ihr Schwerpunkt ist die Frage, wie man »inklusiv« unterrichten, und, als Voraussetzung dafür, ein Klima der Wertschätzung und des Vertrauens schaffen kann.
  • Michaela Rastede berichtet über einen von der Karg-Stiftung unterstützten Bremer Modellversuch: eine Grundschule und eine Sekundarschule arbeiten eng zusammen an der Entwicklung eines inklusiven Konzepts zur Förderung von Begabungen.
  • Die Montessori-Schule Greifswald entstand unmittelbar nach der Wende, weil ein junger Lehrer mit viel Pioniergeist und Tatkraft die Gründung betrieb und Unterstützung erfuhr. Nils Kleemann berichtet, wie er seine Schule zum Ziel zu steuern versucht, mal mit, mal gegen den Mainstream.
  • Reinhard Stähling leitet die Schule Berg Fidel, die beantragt hat, die bestehende Grundschule bis zum Abitur weiterführen zu können. Die Schule hat dafür ein konsequent inklusives, mutiges, innovatives Konzept entwickelt.
  • Bastian Becker berichtet darüber, wie Kinder mit besonderen Lernproblemen in Gymnasialklassen integriert werden können, wenn der Unterricht methodisch entsprechend konzipiert und durchgeführt wird.

Wenn es nach diesen Schulen geht, können die Befürworter der Inklusion sehr zuversichtlich sein. Nichts ist überzeugender als gute Beispiele. Auf die Dauer können sie auch hartnäckige Zweifler überzeugen. Im Sinne unserer Kinder kann man sich nichts Besseres wünschen!

Literatur

  • v. d.Groeben, Annemarie/Kaiser, Ingrid (2012): Werkstatt Individualisierung. Hamburg
    Helmke, Andreas (2012): Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts. Seelze-Velber
  • Hillenbrand, Clemens (2012): Inklusive Bildung. Plädoyer für einen Perspektivwechsel. In: PÄDAGOGIK H. 12/2012, S. 44 ff.
  • Klemm, Klaus/Preuss-Lausitz, Ulf (2011): Auf dem Weg zur schulischen Inklusion in Nordrhein-Westfalen. Empfehlungen zur Umsetzung der UN- Behindertenrechtskonvention im Bereich der allgemeinen Schulen. Essen/Berlin
  • Preuß-Lausitz, Ulf (2012): Inklusion: Modewort oder Hoffnungsträger? In: PÄDAGOGIK H. 9/2012, S. 41 ff.
  • Seitz, Simone (2012): Inklusive Didaktik. Der Reichtum geht von den Kindern aus. In: PÄDAGOGIK H. 10/2012, S. 44 ff.

Dr. Annemarie von der Groeben war bis 2006 didaktische Leiterin der Bielefelder Laborschule. Sie ist Mitglied der Redaktion von PÄDAGOGIK und unter anderem für den Bildungsverein Tabula e. V. tätig.
Adresse: Ellerstr. 29, 33615 Bielefeld
E-Mail: annemarie(at)v-d-groeben.de


Aus: Pädagogik 9/13