Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Die Zahl der früher als hyperaktiv geltenden, nunmehr überwiegend als aufmerksamkeitsgestört beschriebenen Kinder (mit oder ohne Hyperaktivität) hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten explosionsartig vermehrt. Die Verordnungshäufigkeit von Methylphenidat, auch unter dem Medikamentennamen Ritalin® bekannt, legt davon Zeugnis ab. Sie erhöhte sich seit 1990 um das 60fache. Inzwischen werden Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivitätsphänomene nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, sondern auch bei Erwachsenen diskutiert.
Die zunehmende Beschäftigung mit Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen schlägt sich in einer inzwischen fast unüberschaubar gewordenen Anzahl von Publikationen nieder. Sei es wissenschaftlicher Art oder in Form von Ratgebern, die praktische Hilfe vor Ort geben wollen. Der hohe Publikationsaufwand hat jedoch bisher zu keinem wirklich überzeugenden Ergebnis geführt. Bereits die schnell wechselnden, durchaus uneinheitlich verwendeten Begrifflichkeiten spiegeln die Irritationen wider, die dieses Phänomen auslöst. Mal geht es um Hyperaktivität, dann wieder um hyperkinetische Störungen (HKS). Häufig handelt es sich um das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS), das mitunter um Hyperaktivität angereichert wird (ADHS), oder auch, sehr viel harmloser, um unruhige und unaufmerksame Kinder. Je nach Definition fällt der Zuschnitt der betroffenen Personengruppe unterschiedlich aus. Die zur Verfügung stehenden Erklärungstheorien variieren in ihren Inhalten ebenso wie die Vorstellungen darüber, was praktisch für Kinder und Jugendliche zu tun ist.
Bekanntermaßen kleiden sich psychosoziale Auffälligkeiten in das Gewand der jeweiligen Zeit. Insofern ist es nahe liegend, auch Hyperaktivität und AD(H)S als Ausdruck bestehender Lebensbedingungen zu sehen. Zeitverknappung und Reizüberflutung, die das Alltagsleben inzwischen kennzeichnen, erfordern viel von dem, was bei übersteigertem Auftreten als krankhaft gilt. Genauer formuliert: Gegenwärtig hoch gefragt ist die Fähigkeit, die Wahrnehmung möglichst schnell auf neue Reize einzustellen, bei gleichzeitiger Anforderung, sie ebenso schnell wieder aufzugeben. Oder auch das Vermögen, rasch persönliche Kontakte anzubahnen, ohne dass sie einen inneren Nachhall haben und zu einer inneren Besetzung führen. Im immer schnelleren Wettlauf um das Neue verblasst das Langsame und Stetige, die beharrende Konzentration auf das Wesentliche verliert an Bedeutung. Was zählt, ist der unmittelbare Nutzen. Bedürfnisaufschub und Sublimierung gelten als überholte Kategorien, die Zeitdimension verengt sich und wird geschwächt.
Von einem solchen kulturkritischen und psychologischen Verständnis ist der Mainstream der Hyperaktivitäts- und AD(H)S-Forschung weit entfernt. Nach wie vor besteht ein durchaus wirkungsmächtiger Konsens, der sich in erster Linie biologischen Verursachungs- und Veränderungstheorien verpflichtet fühlt. Es sollen hirnphysiologische Faktoren sein, die entscheidend dazu beitragen, dass Kinder hyperaktiv werden oder AD(H)S entwickeln. Auch die sog. multimodalen Modelle haben sich, trotz gegenteiliger Bekundungen, nicht wirklich von ihrem medizinischen Kern entfernt.
Die Beiträge des vorliegenden Heftes gehen einen anderen Weg: Sie wollen psychosoziale und kulturtheoretische Sichtweisen von Hyperaktivität und AD(HS) stärken, ohne dass es zu einer erneuten Polarisierung von Biologischem und Sozialem kommt. Ihr Anliegen ist darüber hinaus, Entwicklungsschwierigkeiten und innere Probleme der betroffenen Kinder und Jugendlichen genauer zu fassen. Für beides gibt es gewichtige Gründe und zwingende Notwendigkeiten.
Zunächst entfaltet Manfred Gerspach einige »Nachdenkliche Anmerkungen zum Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom«. Sie beziehen sich auf die gängige diagnostische Klassifikationspraxis, die sich auf das Symptomatische beschränkt und die Lebenspraxis der Kinder unberücksichtigt lässt. Sodann werden kulturelle und soziale Entwicklungen benannt, die Aufmerksamkeitsdefizite fördern können, und schließlich im Einzelnen ausgeführt, wie das innere Erleben von Kindern Aufmerksamkeitsstörungen geradezu erzwingen kann.
Hans von Lüpke beschäftigt sich mit neuen Ergebnissen der Hirnforschung, die das AD(H)S-Konzept als medizinisch definiertes Syndrom infrage stellen. Denn es ist inzwischen hinreichend belegt, dass biologische Reifungs- und Entwicklungsschritte untrennbar mit psychischen und sozialen Erfahrungen verbunden sind. Von Lüpke plädiert deshalb für eine erweiterte erkenntnistheoretische Grundlage, die Lern- und Beziehungserfahrungen einen angemessenen Platz einräumt.
Der Beitrag von Bernd Ahrbeck und Indra Henning geht in eine ähnliche Richtung. Zunächst erfolgt ein Überblick über wichtige Etappen der Hyperaktivitäts- und AD(H)S-Forschung, der belegt, wie sehr sich der wissenschaftliche Mainstream an eine medizinische Leitidee klammert. Dabei zeigt sich, dass es immer mühseliger wird, das alte medizinische Paradigma aufrechtzuerhalten. Spätestens seit den Arbeiten des Hirnforschers Hüther ist ein grundlegendes Umdenken notwendig, das Biologisches und Soziales gleichermaßen beachtet. Die Vergabe von Ritalin® erscheint in diesem Licht als umso problematischer. Zu beachten ist aber auch, dass ein neues Paradigma vermehrte pädagogische und psychologische Anforderungen an die Eltern, Lehrer und Erzieher stellt.
Ulrike Becker beschreibt, wie schwierig der schulische Umgang mit hyperaktiven Kindern ist. Üblicherweise als selbstverständlich vorausgesetzte Grundlagen des Bildungs- und Erziehungsprozesses existieren nur ausnahmsweise. Der Unterricht führt hyperaktive Kinder deshalb häufig in eine existenzielle Sackgasse, aus der sie sich ohne gezielte Hilfe nicht befreien können. Ein Fallbericht verdeutlicht diese Überlegungen: Es wird gezeigt, wie zeittypische Sozialisationsprobleme in ihrer spezifischen Verarbeitung zu Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität führen können.
Bernd Ahrbeck