Liebe Leserinnen und Leser,
während hierzulande in bildungspolitischen und wissenschaftlichen Kreisen immer noch darüber debattiert wird, ob der Begriff der Inklusion den Begriff der Integration ablösen sollte, ist dieses Thema international längst ausdiskutiert. Der amtierende UN-Sonderberichterstatter zum Recht auf Bildung Vernor Muñoz Villalobos weist in seinem in Deutschland bislang kaum zur Kenntnis genommenen Hauptbericht des Berichtszeitraums 2004–2007 mit dem Titel ›The right to education of persons with disabilities‹ vom Februar 2007 darauf hin, dass das Konzept der ›inclusive education‹ u. a. auf die weltweit zu verzeichnende Exklusion von Menschen mit Behinderungen aus dem allgemeinen Bildungssystem eine Antwort gibt: »Als Antwort auf diese Exklusion hat eine erstarkende Partnerschaft der ›Menschenrechts‹- und ›Behinderten‹-Bewegung‹ ein pädagogisches Paradigma gefördert, das heute als ›Inklusive Pädagogik‹ allgemein bekannt ist. Inklusive Pädagogik geht davon aus, dass jedes Kind einzigartige Eigenschaften, Interessen, Fähigkeiten und Lernbedürfnisse aufweist und dass Lernende mit besonderem Förderbedarf Zugang zum allgemeinen Bildungssystem haben müssen und dort erfasst werden müssen mithilfe einer auf das Kind bezogenen Pädagogik. Unter Berücksichtigung der Vielfalt der Lernenden strebt Inklusive Pädagogik die Bekämpfung diskriminierender Haltungen, die Schaffung aufgeschlossener Gesellschaften, das Erreichen einer Pädagogik für alle, ebenso wie die Verbesserung der Qualität und Effektivität der Pädagogik für Durchschnittslerner an. Demnach sollten Bildungssysteme Personen mit Behinderungen nicht länger als lösungsbedürftige Probleme ansehen, sondern stattdessen positiv auf die Vielfalt der Schüler antworten und individuelle Unterschiede als Chancen begreifen, das Lernen für alle zu bereichern« (6, Übers. d. Verf.).
Der Begriff »inclusion« und das Konzept der »inclusive education« nehmen auch in der im Mai 2008 in Kraft getretenen UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen eine Schlüsselstellung ein. Deutschland hat diese Menschrechtskonvention bereits im März 2007 unterzeichnet; die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention lässt allerdings immer noch auf sich warten, da sich die Kultusminister der Länder nicht zur inklusiven Bildung durchringen können, weil diese die gegenwärtige Strukturen unseres Schulsystems in Frage stellt. Der aktuelle Streit über die adäquate Übersetzung des Begriffs »inclusion« in Art. 24 [»Recht auf Bildung«] der UN-Behindertenrechtskonvention ist deshalb viel mehr als nur ein Streit um Begriffe. In dem Streit um die Begriffe »Inklusion« und »Integration« geht es vielmehr um bildungspolitische – und vielleicht sogar bildungstheoretische – Grundüberzeugungen, die konträrer nicht sein könnten (vgl. den Beitrag von C. Lindmeier in diesem Heft). Vor diesem Hintergrund werden im Thementeil dieses Heftes die aktuellen Auseinandersetzungen über den Begriff und das Konzept der Inklusion bzw. der inklusiven Bildung aus unterschiedlichen Blickwinkeln diskutiert.
Alfred Sander kommentiert zunächst zentrale Aussagen aus der Lissaboner Erklärung vom September 2007, in der sich behinderte Jugendliche aus 29 europäischen Ländern über ihre schulischen Erfahrungen und Vorstellungen zu einer inklusiven Bildung äußerten. Im zweiten Teil seines Beitrags skizziert der Autor den »langen Weg« schulischer Bildung für junge Menschen mit Behinderung von deren weitestgehendem Ausschluss aus dem Bildungssystem noch vor rund 150 Jahren bis zu ihrer heutigen Bildungssituation, in der auch in Deutschland die inklusive Schule – nicht zuletzt im Kontext der demografischen Entwicklung – an Bedeutung gewinnen wird. Der Beitrag ist ein Beispiel für den produktiven Fachdiskurs unter Einbezug der Betroffenen.
Christian Lindmeier beschäftigt sich mit der neuen UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und ihren menschenrechts- und bildungspolitischen Implikationen. Um nicht auf einer rein bildungspolitischen Ebene der Auseinandersetzung verharren zu müssen, verdeutlicht er die theoretischen Hintergründe des Prinzips der Inklusivität (»inclusiveness«) und des Konzepts der inklusiven Bildung (»inclusive education«), die erstmals in einem Menschenrechtsabkommen eine tragende Rolle spielen. Hierbei werden insbesondere die Kernbereiche und Strukturelemente des menschenrechtsbasierten Bildungsansatzes der Vereinten Nationen vorgestellt, in dem der Schutz vor Diskriminierung in der Bildung besondere Aufmerksamkeit erfährt. Ausgehend von aktuellen bildungspolitischen Debatten über Selektivität und Inklusivität, die unter anderem von dem amtierenden VN-Sonderberichterstatter zum Recht auf Bildung angeregt wurden, wird abschließend das abgestufte deutsche Schul- bzw. Bildungssystem kritisch reflektiert.
Unter dem ironisch-provokativen Obertitel »Scheitern inklusiv?« setzt sich Norbert Wenning zunächst mit der Verwendung von ›Integration‹ und ›Inklusion‹ in der »deutsch-sprachigen pädagogischen Debatte« auseinander und kommt dabei zu einer pointierten, damit aber klärenden Unterscheidung der beiden Begriffe, indem er Integration mit einer »Normalitätsorientierung« und Inklusion mit einer »Orientierung an Heterogenität« verbindet. Obwohl er sich eindeutig für eine inklusive Schule als eine »Schule für alle« – unabhängig von Geschlecht, sozialer, ethnischer, kultureller oder religiöser Zugehörigkeit und Begabung – positioniert, arbeitet er »Widerständigkeiten« bei der Umsetzung des Inklusionskonzepts im bundesdeutschen Bildungswesen deutlich heraus. Da ein »unbedachtes Eingliedern« von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in die Regelschule leicht zu einem »Scheitern inklusiv« führen könne, plädiert er für eine Strategie der »kleinen Schritte« im Sinne einer »Inklusion als regulativer Idee«.
Im Zusammenhang mit Inklusion und Exklusion gibt Vera Moser einen informativen Überblick über die Rezeption der Systemtheorie in der Sonderpädagogik. Sie arbeitet zwei Phasen dieser Rezeption heraus, die zugleich inhaltliche »Spielarten« sind. In der ersten Phase sind »system-ökologische« (z.B. Bronfenbrenner) und »biologisch-konstruktivistische« (z. B. Maturana und Varela) Betrachtungsweisen in die Heil- und Sonderpädagogik eingeführt worden – mit der Konsequenz, Menschen mit Behinderung verstärkt in ihren kontextuellen Bedingungen und Lebensbezügen zu sehen. In der zweiten Phase, die in Luhmann ihren hauptsächlichen Referenzautor hat, richtet sich der Fokus der Rezeption vor allem auf die Eigenlogik sozialer Systeme und damit verbundene Inklusions- und Exklusionsprozesse.
Auch im Allgemeinen Teil des Heftes wird das Thema schulische Inklusion aufgegriffen. Elisabeth Plate vermittelt interessante Einblicke in die »inklusive« Praxis einer Londoner Grundschule, die sie differenziert kritisch analysiert vor dem Hintergrund widersprüchlicher Vorgaben von Inklusion einerseits und reglementierenden (Leistungs-)Standards andererseits – ein Lehrbeispiel für fragwürdige Nebenwirkungen einer standardisierten Qualitätskontrolle im Schulbereich. Im Nachgang zum Themenschwerpunkt des Heftes 3/2008 werden in der Rubrik Diskussionen/Berichte außerdem die Trierer Standards für integrativen Unterricht abgedruckt.
Christian Lindmeier / Hans Weiß