Heilen und Pflegen hieß es im 19. Jahrhundert. Aber es ging nicht zuletzt um die vorübergehende oder dauerhafte Ausgrenzung der für die Entwicklung der Industriegesellschaft Unbrauchbaren, in der Nazizeit wurde sogar ihre Ausmerzung unter Beteiligung vieler Ärzte organisiert. Nach dem 2. Weltkrieg blieb es bis zur Psychiatrieenquàªte 1975 bei "elenden und menschenwürdigen Umständen" in den Anstalten, bis diese das psychiatrische Krankenhaus in den Mittelpunkt des von ihr entworfenen "kooperativen und koordinierten" Versorgungssystems im "Standardversorgungsgebiet" rückte. Bei Verbesserung der räumlichen Bedingungen in den Krankenhäusern blieb die Personalausstattung weiterhin völlig unzureichend. Die chronisch kranken Patienten wurden trotz inzwischen ermöglichter - aber für aufsuchende Behandlung unterfinanzierter - Institutsambulanz eher umhospitalisiert als integriert. Die Expertenkommission zum Bundesmodellprogramm hat daraufhin 1988 das Krankenhaus nicht in den "Gemeindepsychiatrischen Verbund" ambulanter und komplementärer Leistungserbringer einbezogen - hat sozusagen ein Netz ohne das kaum kooperationsfähige Krankenhaus konzipiert. -- Eine Wende brachte 1991 die Psychiatriepersonalverordnung (Psych-PV) - leider nur passager. Nachdem die Selbstverwaltung aus Krankenkassen und Krankenhausgesellschaft sich nicht auf eine Reform einigen konnte, erarbeitete ein sachverständiges Bundesministerium mit einer interdisziplinären Kommission zuerst ein Konzept für eine lebensweltbezogene regional vernetzte Behandlung und, auf Erfahrungen von "best practice" aufbauend, ein realistisches und sparsames, alle Berufsgruppen berücksichtigendes Personalbemessungskonzept für Patientengruppen mit definierten Behandlungszielen und unterschiedlichem Schweregrad der funktionellen Beeinträchtigungen. Ein Erfolgsmodell: Über drei Jahre fast überall konsequent umgesetzt - wegen der Drohung, das Geld für nicht besetzte Stellen wieder abzuziehen - verbesserte sich die Behandlungsqualität erheblich. Die Investition von einer im Durchschnitt 20%igen Steigerung der Personalbesetzung rechnete sich auch für die Krankenkassen durch eine im Ausmaß vergleichbare Verweildauerverkürzung. Kein Wunder, dass die erste Evaluation durch die Aktion Psychisch Kranke (APK) 1996 von allen verantwortlichen Institutionen (BMG, GKV und DKG) mit einmütiger Zustimmung versehen wurde. -- Das war es dann auch. Es folgte ein unwürdiges Spiel über mehr als ein Jahrzehnt praktizierter Verantwortungslosigkeit, im stillschweigenden Einverständnis von Krankenkassen, Krankenhausträgern und BMG: Trotz fortbestehender Psych-PV und ausdrücklicher Ausnahme von Budgetierung in der Bundespflegesatzverordnung (BPflV) wurde diese von den Krankenkassen zur Verminderung der dem Krankenhaus zustehenden Stellen benutzt, um jährlich im Schnitt ca. 1,5%. Dies erfolgte zumeist ohne nennenswerten Widerstand der Krankenhausträger, die vielmehr darüber hinaus selbst ("die Psych-PV gilt ja nicht mehr") aus den Erlösen für die psychiatrische Krankenhausbehandlung so genannte "Deckungsbeiträge" zur Quersubventionierung anderer Bereiche oder zur Gewinnmitnahme bei privater Trägerschaft nutzten. Beschwerden beim BMG blieben ohne Wirkung. Die zunehmende Unterbesetzung hatte über die Jahre vielerorts katastrophale Folgen für die Qualität der Behandlung insbesondere der schwer beeinträchtigten Patienten. -- Aber für gemeindenahe Behandlung hatte dies auch einen, wenn auch fragwürdigen, Vorteil: Die Psychiatrie - vorher Schreckgespenst - wurde plötzlich attraktive Geldquelle für die Träger der Allgemeinkrankenhäuser, die zunehmend gemeindenah gelegene psychiatrisch-psychotherapeutische Abteilungen einrichteten (z.Zt. über 180). Das war verbunden mit einem weiteren Problem: Vor allem die zunehmende Zahl der Krankenhäuser in privater Trägerschaft mit Renditeerwartungen um die 10% und mehr der Erlöse, entdeckte, dass die Einrichtung von "Spezialstationen" für Patienten mit geringen psychosozialen Beeinträchtigungen eine rentable Investition darstellte, weil diese Stationen wegen des geringeren Bedarfs an Pflegepersonal bei gleichem Pflegesatz besonders gewinnbringend waren. Nicht unbedingt für die Patienten - denn für eine nachhaltige Besserung durch derartige vollstationäre Behandlung ohne verknüpfte ambulante Nachbehandlung gibt es keine Evidenz. So ist in den letzten Jahren aus diesem rein betriebswirtschaftlichen Grund, entgegen den fachlichen und volkswirtschaftlichen Erfordernissen, die Zahl der stationären psychiatrischen Betten und Behandlungstage vielerorts wieder gestiegen. -- Eine zweite Evaluation der APK, bezogen auf das Jahr 2004, ergab eine durchschnittliche Psych-PV-Ausstattung von 89% - sicherlich ein zu hoher Wert, da nicht wenige Verwaltungen Beschäftigte in der Institutsambulanz oder Nachtwachen fälschlich einrechnen. Bei der Verabschiedung des KHRG im Dezember 2008 lag der Durchschnitt wahrscheinlich um oder unter 80?%. Angesichts des zusätzlichen Leistungsbedarfs, bedingt durch die Verweildauerverkürzung auf etwa 55?% seit Einführung der Psych-PV, ist für die schwerer kranken, vor allem die in ihren Alltagskompetenzen und ihrer sozialen Kompetenz vorübergehend eingeschränkten Patienten nur noch Notversorgung möglich. Für die lebensweltbezogene Kommunikation mit dem sozialen Umfeld wie für die Zusammenarbeit mit vorbehandelnden und nachsorgenden Diensten und Institutionen ist keine Zeit. Die Klinik ist meist eine Insel in der Welt, kaum vernetzt mit dem "extramuralen" gemeindepsychiatrischen Hilfesystem. -- Die Entwicklung zusammengefasst: Es herrschen wieder "elende und menschenunwürdige" Zustände in vielen Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie. Nicht in allen - es gibt eine kleine Minderheit, dort wo Krankenhausträger (z.T. über Schiedsstellen und gerichtliche Auseinandersetzungen) angemessene Pflegesätze durchsetzen konnten und das Personal auch eingesetzt haben. -- --
Beitrag
Zur Zukunft der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie.
TUP - Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit (ISSN 0342-2275), Ausgabe 6, Jahr 2010, Seite 455 - 463
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TUP - Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit (ISSN 0342-2275), Ausgabe 6, Jahr 2010, Seite 455 - 463
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