Beltz.de: Studien zeigen, dass das Leseniveau bei Kindern und Jugendlichen immer stärker abnimmt. Welche Herausforderungen stellt diese Erkenntnis an ein Programm wie Gulliver?
Christian Walther: Für uns heißt das vor allem: wir müssen Leseerlebnisse schaffen, die Kinder und Jugendliche in ihrer jeweiligen Lebenswelt abholen. Das beinhaltet neben den Geschichten selbst auch die Lesbarkeit.
Elisabeth Gayer: Genau. Wir sind natürlich immer auf der Suche nach den besten Geschichten. Aber wir machen uns auch Gedanken darüber, wie wir diese Geschichten dann zu den Leser:innen bringen. Dabei spielen Satz und Typografie, aber natürlich auch die Covergestaltung und der Illustrationsstil für uns eine ebenso zentrale Rolle.
Beltz.de: Inhalt und Form müssen also im Einklang sein?
Christian Walther: Ja und Nein. Sowohl der Inhalt als auch die Form sollten genau auf das jeweilige Lesealter und die Lesefähigkeit abgestimmt sein. Die Form sollte ansprechend und für leseungeübte Kinder leicht zugänglich sein, der Inhalt darf davon aber durchaus abweichen und auch in die „Tiefe“ gehen. Wir wollen Kinder und Jugendliche ja für das Lesen an sich begeistern und ihnen so neue Erfahrungshorizonte eröffnen. Aber sicher geht das in manchen Fällen nur, wenn die Form den Inhalt unterstützt, wenn also die Geschichten nicht nur inhaltlich zugänglich sind.
Elisabeth Gayer: Daher haben wir auch mit unserer Reihe „Super Lesbare Bücher“ ein Konzept entwickelt, das das Lesealter vom Leseniveau entkoppelt. Inhaltlich entsprechen die Bücher der Erfahrungswelt der Leser:innen. Sie bieten altersgerechte Geschichten und vielfältige Themen, sind unterhaltsam, spannend und humorvoll. Sprachlich sind sie aber auf einem einfacheren Leseniveau geschrieben.
Beltz.de: Das ist sicher keine leichte Aufgabe für Autor:innen und Lektor:innen.
Elisabeth Gayer: Ja, dazu haben wir uns viele Gedanken gemacht und uns die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen sehr genau angeschaut, uns mit Autor:innen ausgetauscht, die viele Lesungen an Schulen halten, mit Eltern, Lehrer:innen und Expert:innen aus der Leseförderung gesprochen. Was möchten die buchaffinen Eltern, die ihre Kinder fördern wollen? Wie kann die Lehrerin leseunlustige Kinder motivieren? Welche Themen sind für diese Kinder so interessant, dass sie zum Buch greifen? Wer empfiehlt ihnen die Bücher? All diese Fragen haben wir uns gestellt, um für unsere Leser:innen die bestmögliche Leseerfahrung zu schaffen.
Christian Walther: Das wichtigste ist, den richtigen Ton zu treffen. Dafür sind wir natürlich immer im engen Austausch mit unseren Autor:innen. Die Kriterien für gute Lesbarkeit sind ja nirgends fest definiert, daher haben wir eigene Leitplanken für das Schreiben solcher Bücher entwickelt, die den Autor:innen als Orientierung dienen sollen. Diese sind dabei allerdings nicht als feste Regeln zu verstehen. Die Autor:innen sollen nicht beim Schreiben Wörter zählen – Vorrang hat die Geschichte, in die die Kinder eintauchen können sollen.
Beltz.de: Es geht also immer noch hauptsächlich um das Erzählen?
Christian Walther: Selbstverständlich. Unser Ansatz von Leseförderung hat keinen didaktischen Zeigefinger, da stehen wir mit Gulliver ganz in der langen Tradition von Beltz. Es geht uns darum, tolle Inhalte für ein möglichst großes Publikum zu produzieren, die Ihnen die Welt aus einer sehr nahen Perspektive eröffnet.
Elisabeth Gayer: Gerade bei Gulliver wollen wir vor allem motivieren. Zum Lesen, zum Eintauchen, zum „Sich-Verlieren“. Und das geht natürlich nur über die Geschichten. Die Form, das Handwerk sozusagen, ist dann nur Mittel zum Zweck, um Lesbarkeit für möglichst viele Leser:innen herzustellen und damit erzählte Welten einer möglichst großen Bandbreite von jungen Menschen zugänglich zu machen.
Beltz.de: Was würdet Ihr Eltern raten, die ihre Kinder für das Lesen begeistern möchten?
Elisabeth Gayer: Auf jeden Fall eine Vielfalt an unterschiedlichen Themen und Genres anbieten und die Kinder selbst auswählen lassen. Das wichtigste ist, dass Kinder früh mit Geschichten und Büchern in Kontakt kommen und lernen, dass sie sich ihre Welt mithilfe dieser Geschichten erschließen können. Das Vorlesen und das Heranführen an das Selbstlesen sind wichtige Voraussetzungen für hohe Lesekompetenz.
Christian Walther: Wir versuchen, auch Eltern durch unsere Art, Leseerfahrungen zu schaffen, an die Lesebegleitung heranzuführen. Ein 11jähriges Kind, das noch nicht so gut lesen kann, braucht u.U. die Unterstützung seiner Eltern, um sich an ein Buch heranzutrauen. Wenn den Eltern klar wird, dass ein Buch dieses Problem ernst nimmt, indem es auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen eingeht und sie nicht durch hohe Sprachbarrieren stigmatisiert, kann das viel helfen. Wir versuchen, Eltern so gut es geht durch unser Programm bei Gulliver genau dabei zu unterstützen.