Würde uns die Magie unserer Heldin Jana erwischen, die alle Menschen dazu bringt, immer die Wahrheit zu sagen, müssten wir an dieser Stelle zugeben: Ja, wir lassen uns ständig ablenken. Wir, die Schriftsteller, von denen alle denken, sie sitzen täglich konzentriert am Schreibtisch. In aller Ruhe, die Katze daneben, über der Teetasse der tanzende Dampf. Weit gefehlt. Klar gibt es Momente, in denen wir alles ausschalten, meistens zwei Wochen vor dem Abgabetermin eines neuen Buchs. Im Alltag aber macht das Telefon »möök, möök«, wenn eine Nachricht eintrifft oder wir uns gegenseitig wieder frische Reels gesendet haben. Der Algorithmus kennt uns dabei gut. Bei Sylvia tummeln sich die Meerestiere und bei mir vor allem Waschbären. Katzenvideos werden uns beiden empfohlen. Gesellschaftlich haben wir Themen, bei denen wir uns aufregen, die uns wütend machen und empören. Sylvia bleibt dabei meist gelassen. Ich gehe in die Luft und kann mich kaum zurückhalten, Kommentare zu schreiben.
Oliver übertreibt gerade ein bisschen. So zornig wird er nun auch wieder nicht. Aber doch, manchmal schon. Andererseits sammelt er auch Memes mit Weisheiten zur Gelassenheit oder Anregungen, mal wieder in den Wald zu gehen. Das Netz im Allgemeinen und die sozialen Medien im Besonderen können wunderbare Werkzeuge sein, um neues Wissen zu erlangen und den Horizont zu erweitern. Sie sind aber auch ein Triebmotor für die niederen Instinkte. Bewusst so gestaltet, dass sie süchtig machen und somit uns vom Schreiben und die Menschen vom Lesen abhalten.
Wir beide lesen seit unserer Kindheit fürs Leben gern. Pippi Langstrumpf, der kleine Nick, Zwiebelchen, Momo, die drei Fragezeichen oder die feuerrote Friederike sind Heldinnen und Helden unserer Kindheit. Damals haben auch schon andere Medien gegen das Buch um unsere Zeit gerungen. Filme, Musik, Videospiele und das Festnetztelefon, an dem man stundenlang mit Freunden quatschte. Dennoch ist der Zustrom von Angeboten heute breiter gefächert… und er reißt niemals ab. Das Sprach- und Leseniveau spreizt sich derweil in die Extreme. Manche Kids lesen mehr als je zuvor und betätigen sich sogar selber als Autorinnen und Autoren. Sie veröffentlichen Erzählungen auf Wattpad oder Bücher im Selfpublishing. Andere greifen so gut wie gar nicht mehr zum Buch. Was aber nicht bedeutet, dass sie dümmer wären oder weniger neugierig. Sie bewegen sich nur in anderen Gefilden. Schauen lange Serien mit komplexer Handlung. Kombinieren, kämpfen und rätseln sich durch Spiele, deren Umfang und Tiefe nur mit viel Geduld bewältigt werden können. Deswegen sind wir froh, seit einigen Jahren Romane für die Reihe »Super lesbar« schreiben zu dürfen, weil diese zwar die sprachlichen Hürden senkt, bei der Tiefe der Geschichten aber keinerlei Abstriche macht. Im Gegenteil. Erwachsene mögen unsere superlesbaren Bücher genausogern wie Jugendliche. In der Schule führen sie zu lebendigen Gesprächen über die großen Fragen des Lebens. Was zeichnet Freundschaft aus? Wie gehen wir miteinander um? Was macht das Netz mit uns? Sogar: Wieso sind wir eigentlich hier? Oder: Können wir überhaupt wissen, was real ist? Wie erschaffen wir diese Geschichten? Dazu übergebe ich wieder an Oliver.
Wenn wir superlesbare Romane schreiben, entwerfen wir alles ganz genau so, wie wir es auch bei Literatur für Erwachsene täten. Wir bauen die Welt und lassen Figuren entstehen, die mit uns reden, neben uns stehen, eine Weile bei uns leben. Wir planen die gesamte Handlung, bevor wir das erste Wort schreiben, hängen Szenenblätter an die Wäscheleine und sortieren sie um. Wir machen uns Gedanken über Metaphern oder Allegorien, über Easter Eggs und Querverweise zu anderen Werken. Klappt ein von mir erdachtes Ende trotzdem nicht, erfindet Sylvia ein neues, das mich aus den Schuhen haut, wie bei »Es kommt« geschehen. Im Podcast Beltz Stories habe ich darüber berichtet. Gute Planung ermöglicht, in einen Satz so viel hineinzupacken wie bei mehr Platz in fünf. Außerdem praktizieren wir, was immer richtig ist und was auch gute Lektorate machen – kürzen, straffen, reduzieren. Alle Füllwörter radikaler rauskämmen denn je zuvor. Einen Gag nur einmal erzählen. Nichts erklären, alles zeigen. Sylvia findet es sicher angeberisch, wenn ich das sage, aber Ernest Hemingway hat so gearbeitet. »Der alte Mann und das Meer« ist 144 Seiten kurz und hat den Pulitzer-Preis gewonnen. Von Joseph Pulitzer selbst stammt das Zitat: »Schreibe kurz – und sie werden es lesen. Schreibe klar – und sie werden es verstehen. Schreibe bildhaft – und sie werden es im Gedächtnis behalten.« Genau das passiert bei den superlesbaren Büchern mit den Kids und vielen Großen: Sie lesen. Sie verstehen. Sie behalten es im Gedächtnis. Und was rede ich hier von Hemingway? Wir erwähnten doch oben einige unserer Lieblingsbücher als Kinder. Schauen Sie mal in die Reihe »Der kleine Nick« von René Goscinny. Kurze Sätze. Präzise Sprache. Trockener Humor. Das hat uns beeinflusst, ebenso wie die Bildhaftigkeit und Imaginationskraft eines Michael Ende.
Oliver gibt wirklich gerne an. Aber Michael Ende ist ein gutes Stichwort. Seine klassische Heldin Momo kämpft gegen die Zeit-Diebe, die manipulativen grauen Herren der Zeitsparkasse. Wir kämpfen auch jeden Tag gegen sie. Doch die sozialen Medien klauen nicht nur die Zeit. Sie nagen auch an unserer Seele. Cybermobbing, Narzissmus, die Sucht nach Likes, mitgefilmte und verbreitete Grausamkeiten. In »Alles, was du denkst« kommt die Welt an einen Punkt, an dem für kurze Zeit das gesamte Netz abgeschaltet werden muss. Ein globaler Lockdown der Weltöffentlichkeit. Als die Server für die User wieder hochfahren, bleiben die sozialen Medien, wie wir sie heute kennen, weiter offline. Manche empfinden das als positive Utopie. Andere – interessanterweise vor allem Lehrerinnen und Eltern – halten den Gedanken für »sehr problematisch«. Als wäre es ein Naturgesetz, wie wir heute leben und keine Geschichte, die man auch anders schreiben könnte. Alternativen zum Gang der Dinge aufzeigen, sehen wir auch als Aufgabe von Literatur. Und Empathie zu erzeugen, wenn alle Charaktere irgendwann offenbaren, warum sie sind, wie sie sind. Dazu gibt’s übrigens auch ein gutes Mem. Ich finde es gerade nicht wieder, aber ich erinnere mich, wie es zwei Menschen als Kreise zeigt, die sich in der Begegnung nur so schneiden, dass sie vom Gegenüber kaum zehn Prozent kennen. Erstmal mehr erfahren, zeigt das Bild sehr schön, bevor man über Menschen ein Urteil fällt. So, nun wird’s aber Zeit, Feierabend zu machen. Das Smartphone meldet sich bereits, mit Delphinen, Waschbären, Katzen und der Anregung, mal wieder in den Wald zu gehen.