In unserer Branche, der Buchbranche, schmückt man sich häufig damit, etwas für die Gesellschaft zu tun, Kultur zu fördern und einem Bildungsauftrag nachzukommen. Unsere Produkte sind meritorische Güter, unterliegen der Buchpreisbindung (in großen Teilen) und gehören damit zu einem sehr kleinen Kreis von Erzeugnissen, denen ein besonderer gesellschaftlicher Wert über ihren reinen Warenwert hinaus zugesprochen wird. Als Kinder- und Jugendbuchverlag sind wir uns der Verantwortung bewusst, die die Rolle als Geschichten- und Wissensvermittler mit sich bringt. Unsere »Pappen«, Bilderbücher, Kinderbücher und Jugendbücher sollen dabei einem möglichst großen Publikum an Eltern und ihren Kindern zugänglich gemacht werden.
Dass uns dies immer schlechter gelingt, wissen wir nicht erst seit der IGLU-Studie, sondern durch viele weitere Lesestudien in den letzten Jahrzehnten. Trotz unermüdlicher Arbeit in Verlagen, Handel und Branche für die Leseförderung scheint es, als verpuffe die Energie irgendwo. Wir brauchen einen neuen Fokus, eine neue Idee, neue Konzepte, um wieder mehr Kinder- und Jugendliche dafür zu begeistern, in geschrieben Geschichten einzutauchen, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen und sich in der Fiktion zu verlieren.
Aus der Lebenswelt heraus
Die lebensweltliche Verankerung von Geschichten und Darreichungsformen kann in diesem Zusammenhang nicht genug betont werden. Anstatt uns in Kulturpessimismen und Untergangsrhetorik zu verlieren, sollten – und müssen – wir uns bewusst machen, in welcher Hinsicht wir selbst Teil des Problems sind. Mantras à la »Böse Techkonzerne, böses TikTok, YouTube, Instagram« helfen hier herzlich wenig. Vielmehr sollten alle Branchenteilnehmer genauer hinsehen, welche Faszination von diesen Angeboten ausgeht, welche positiven Effekte sie u.U. auch auf die Lesemotivation haben könnten. Es muss die Frage erlaubt sein: Wie werden wir als Buchbranche Teil eines Fortschrittsprozesse bei der Rezeption von Inhalten, anstatt uns immer und immer wieder auf denselben »Rückbesinnungskurs« zu begeben, der uns unterm Strich genau dorthin gebracht hat, wo wir jetzt sind: in die Rat- und Machtlosigkeit einer Generation gegenüber, die sich eben nicht mehr bedingungslos für geschriebene Inhalte interessiert. Es muss das oberste Ziel sein, die Lebenswelt ebenjener Generation ernst zu nehmen, aufzugreifen und sich in ihr zu bewegen, anstatt sie als »Zeitgeist«, »Populärkultur« oder durch andere Zuschreibungen abzuwerten.
Damit wären wir an dem Punkt, der offensichtlich erscheint, aber eine unerwartete Pointe hat: Die Engführung auf die Kompetenz wird zum Problem. Während nämlich die öffentliche Debatte sich ohne Unterlass um die Frage der Lesekompetenz dreht, müsste eigentlich eine andere Kategorie her. Die unvermeidliche Konsequenz dieser leistungsgetriebenen Problemanzeige ist nämlich, dass etwas, das eigentlich lustvoll, spaßig und motivierend sein sollte, plötzlich zum Gradmesser für Fähigkeiten wird. Fähigkeit und Selbstwert gehören oftmals zusammen, bedingen sich gar gegenseitig. Dadurch entwickelt sich eine Abwärtsspirale, die nicht nur die Lesekompetenz betrifft. Wenn wir es nicht schaffen, das Lesen mit positiven Gefühlen und Erfahrungen zu verknüpfen, wird sich an der Kompetenzfrage nichts ändern. Andersherum ausgedrückt: Wer positive Gefühle und Erfahrungen mit einer Tätigkeit verknüpft, wird auch schneller Kompetenz entwickeln.
Was bleibt also von der Leseförderung? All jene großartigen Konzepte und Ideen, die Kinder und Jugendliche direkt ansprechen, die sie dort abholen, wo sie stehen. Davon gibt es eine Menge, die jedoch in den allermeisten Fällen ehrenamtlich organisiert sind, in Vereinen, Leseclubs etc. Der kommerzielle Teil der Buchbranche tut sich demgegenüber unglaublich schwer, aus seinen Mechanismen auszubrechen. Denn, und das muss allen Marktteilnehmer:innen klar sein: Leseförderung kostet in erster Linie Geld, sie spielt keines ein. Ihr Effekt hingegen, mehr Leser:innen, mehr buchbegeisterte Kinder und Jugendliche, ist ein essentieller Faktor für wirtschaftlichen Erfolg in der Zukunft. Denn nicht nur wir Kinder- und Jugendbuchverlage sind mit dem Problem konfrontiert. Uns betrifft es nur momentan unmittelbarer. In zehn bis fünfzehn Jahren verlagert sich das Problem ganz einfach auf die Erwachsenenliteratur.