Liebe Anne Otto, Small Talk auf Partys, neue Leute treffen oder einen Vortrag halten sind typische Situationen, in denen sich Menschen unwohl und unsicher fühlen. Woher kommt diese soziale Angst?
Meistens geht es um eine Angst vor Bewertung, man steigert sich in Befürchtungen rein, was andere wohl von einem denken, ob sie einen anschauen, ob etwas peinlich sein könnte oder man abgelehnt wird. Fast jeder kennt das: Sobald man anfängt, sich in eine Situation selbst kritisch zu beäugen, nimmt das Unbehagen zu. Oft verselbständigt sich die Unsicherheit dann. An anderen Tagen in ähnlichen Situationen, wenn man sich vielleicht von Anfang an super mit anderen unterhält oder etwas rasend interessant ist, kommen solche kritischen Selbstbewertungen und die Angst vor der Bewertung der anderen vielleicht gar nicht erst auf.
Was raten Sie als Psychologin zum Umgang mit dieser Angst?
Angenommen, Sie sind bei einem Abendessen mit anderen, sitzen in einer großen Runde und merken plötzlich, dass gehemmt sind, etwas zu sagen und fürchten, irgendwie komisch angeguckt zu werden, wenn Sie was sagen, aber auch, wenn Sie schweigen. Das wäre ein Moment, wo ich selbst zum Beispiel schon häufiger mal erlebt habe, dass ich mich plötzlich unsicher gefühlt habe. Dann gibt unterschiedliche Wege, hier vielleicht zwei: Der eine wäre es, die Unsicherheit zu begrüßen, nach dem Motto „Hey, da bist du ja, setz dich zu uns“ und das Gefühl einfach einzuladen, dabei zu sein. Diese annehmende Haltung der eigenen Unsicherheit gegenüber muss man aber ein bisschen üben, ad hoc kommt einem das vielleicht erst mal seltsam vor. Die zweite Idee, eher eine Art Werkzeug, wäre es, die Aufmerksamkeit sehr bewusst von sich selbst wegzulenken und sich auf die Außenwelt zu konzentrieren. Was reden die anderen? Welche Themen sind im Gespräch? Wie sehen die Gardinen aus und welche Musik tönt im Hintergrund? Sie können sich auch so etwas sagen wie „Hey, ich bin neugierig, was hier passiert.“ Oder „Hey, ich will hören, was mein Gegenüber sagt.“ Sobald dieser Fokus auf andere gelenkt ist, verändert sich oft die eigene Unsicherheit – man kommt weg von Selbstzweifeln und Selbstbeobachtung.
Kriege, Umweltkatastrophen, Inflation – wir leben in unsicheren Zeiten. Können wir diese Unsicherheit überhaupt überwinden?
Nein. Und ich glaube, dass es für einzelne aber auch gesellschaftlich viel bewirken würde, wenn wir mehr an uns heranlassen würden, dass die Welt ein unsicherer Ort ist, dass Gefühle von Unbehagen oder Unsicherheit dazugehören. Gleichzeitig werden vor allem die sozialen Ängste –Was denken die andern? Werde ich ausgeschlossen? – dadurch befeuert, dass wir uns z.B. in den sozialen Medien ständig vergleichen. Wir leben in einer Optimierungsgesellschaft, da ist das Bewerten und Messen fast ein Automatismus. Das etwas zu lockern, sich da, wenn es geht etwas rauszuziehen, hilft vor allem sozial unsicheren und schüchternen Menschen.
Ihr Buch trägt den Titel »Die Kraft der Unsicherheit« – inwiefern ist Unsicherheit denn eine Stärke?
Ein Hang zu Schüchternheit, Unsicherheit oder einer gewissen Störbarkeit im Umgang mit anderen Menschen ist wohl zum Teil auch ein Temperament, eine Gestimmtheit, mit der man der Welt begegnet. Das kann stressig sein, enthält aber auch viele Fähigkeiten: Unsichere und wenig selbstsichere Menschen sind oft empathisch, gründlich, zuverlässig, sie sind so sensibel, dass sie ein sehr gutes Gespür für Dynamiken in Gruppen haben. Diese sehr offensichtlichen Stärken kann man nutzen und feiern - ein guter Weg, um als unsichere Person schlicht zu sich selbst zu stehen.