Geschlechtsstereotype durchziehen alle Bereiche des gesellschaftlichen Alltags. Ob in Werbung, sozialen Medien, Schulen oder Filmen – stets sind dabei ähnliche Muster erkennbar, die auch bei der Erziehung immer und immer wieder reproduziert werden. Im Kern geht es dabei um erlernte Typisierungen von Geschlecht, die von der Gesellschaft an die Kinder weitergegeben werden, ohne sie im Einzelnen zu reflektieren.
Auf die Frage »was ist ein ›Mädchen‹, was ist ein ›Junge‹?« oder »Was ist ein ›Mann‹, was ist eine ›Frau‹« gibt es aber keine eindeutige Antwort. Geschlechtszuschreibungen sind lediglich Hilfskonstruktionen, mit denen wir unsere Wirklichkeit beschreiben. Damit versuchen wir, uns der von uns kraft unserer Sinne wahrgenommenen Umwelt sprachlich anzunähern. Zum Beispiel sind die Aussagen „XY-Chromosomen=Mann“ und „XX-Chromosomen=Frau“ keine Naturgesetze wie die Gravitation, sondern Ergebnisse von gesellschaftlicher und kultureller Verständigung. Wer also entscheidet über „Geschlecht“? Es sind wir alle, nicht „die Biologie“ oder „die Natur“ oder „das Normale“. In der Menschheitsgeschichte dienten zudem Beschreibungen äußerer Merkmale wie Haare, Geschlechtsteile, Körpergröße etc. häufig der Diskriminierung bestimmter Gruppen.
Das zeigt uns: Viele Hilfskonstruktionen wurden über die Jahrhunderte revidiert, neu definiert oder ganz abgeschafft. Mit zunehmendem Wissen müssen wir immer wieder zugeben, dass unsere Definitionen nicht ausreichen, Menschen ausgrenzen oder überhaupt nicht mit in Betracht ziehen. Mehr Wissen führt immer zu mehr Komplexität. Und das gilt selbstverständlich auch für den menschlichen Körper. Niemand würde zum Beispiel heute noch eine Infektion mit einem Aderlass behandeln, weil die Medizin weiß, dass es die Krankheit sogar verschlimmert.
Ravna Siever schafft es in »Was wird es denn? Ein Kind!«, die komplexen Sachverhalte rund um das Geschlecht als allgemein verständliche Handlungsoptionen für Eltern zu formulieren. Das Kindeswohl, die Bedürfnisse von Kindern und ihre gesunde Entwicklung stehen dabei stets an oberster Stelle. Das Buch zeigt Eltern Möglichkeiten auf, ihre Kinder frei von Zwängen zu erziehen und dabei die Bedürfnisse der Kinder im Blick zu behalten. Ravna Sievers zentrales Anliegen ist: Kinder sollen so sein dürfen, wie sie sind. Sie sollen weder vorverurteilt, voreilig mit bestimmten Zuschreibungen konfrontiert oder in vorgegebene Schubladen gesteckt werden. Dafür sind Aufklärung und Kompetenzvermittlung unerlässlich – nicht zuletzt, um Eltern eine Orientierung zu geben.
Geschlechtsoffene Erziehung heißt dabei nicht völlige Beliebigkeit. Vielmehr geht es darum, Kindern einen vorurteilsfreien Raum zur Entfaltung zu schaffen. Und dabei ist es völlig egal, ob sie »Junge«, »Mädchen« oder eben keines von beidem sind.