In Deinem Buch geht es darum, wie wir neurodivergente Kinder stärken können. Inwiefern benötigen sie denn besondere Unterstützung?
Im Privaten betrifft das meist zuerst das Annehmen des individuellen Charakters des Kindes und das entsprechende gemeinsame Anpassen der Alltagsbewältigung. Gemäß dem Leitsatz: Was brauchst du für deinen Weg? Hinzu kommt, dass wir in einem Umfeld leben, das eher auf neurotypische Menschen ausgerichtet ist. Besonders deutlich fällt das im klassischen Schulkontext auf. Dort fallen eben genau die Kinder, die aus dem oft sehr eng gesteckten Rahmen fallen, besonders auf. Es ist – ob beabsichtigt oder nicht – ein ständiger Scheinwerfer auf sie gerichtet. Das geht nicht spurlos an diesen Kindern vorbei und viele von ihnen zeigen bereits im Grundschulalter ein deutlich geschwächtes Selbstbild. Bei der Stärkung neurodivergenter Kinder geht es also vor allem darum, ihnen wieder ein ausgeglicheneres Bild von den eigenen Fähigkeiten zu vermitteln. Sie haben selbst oft aus dem Blick verloren, dass es Dinge gibt, die ihnen außerordentlich gut gelingen.
Was rätst Du Eltern, die bei ihren Kindern Anzeichen einer Neurodivergenz erkennen? Wie wichtig ist eine Diagnose?
Auch wenn es in der Begleitung von Kindern natürlich nie den Pauschalweg geben kann, bin ich doch sehr deutlich für klare Antworten. Oft stehen Eltern einer potenziellen Diagnose sehr skeptisch gegenüber, da sie befürchten, ihr Kind würde so ungünstig gelabelt oder in eine Schublade gesteckt. Diese Sorgen sind durchaus verständlich, nur dürfen wir nicht dem Irrglauben erliegen, das würde dem Kind ohne Diagnose nicht passieren. Neurodivergente Kinder erfahren auch dann jede Menge eng gefasster und teils auch abwertender Zuschreibungen. Allerdings hier mit dem Unterschied, selbst keine andere Antwort an die Hand bekommen zu haben. Sie haben diesen Zuschreibungen wenig entgegenzusetzen. Etwas, das z.B. viele spätdiagnostizierte Menschen sich rückblickend deutlich anders gewünscht hätten.
Auch mit einer Diagnose ist Akzeptanz keine leichte Aufgabe, aber mit stärkenorientierter, möglich unbefangener Begleitung stehen die Chancen deutlich besser, dass Kinder irgendwann einen guten Bezug zu ihrer neurodivergenten Form finden.
Seit ein paar Jahren häufen sich die öffentlichen Diagnosen auf Social Media und auch in den Medien spielt das Thema eine immer mehr größere Rolle. Gibt es jetzt mehr Untersuchungen und damit auch Diagnosen oder ist einfach der Umgang damit ein anderer?
Es gibt sicherlich deutlich mehr und deutlich besser verbreitetes Wissen um viele neurodivergente Formen. Auch viele bekannte Persönlichkeiten bekennen sich dazu, neurodivergent zu sein und geben diesem Thema neuen Raum. Der Austausch fällt leichter, die Berührungspunkte häufen sich und auch z.B. Lehrkräfte werden zunehmen sensibilisierter. Auch ist mittlerweile bekannt, dass Mädchen in gleichem Verhältnis neurodivergent sein können wie Jungen. Sie liefen in ihren etwas anders aussehenden Ausprägungen häufig unter dem Radar. Neuere Erkenntnisse unterstützen hier eine deutlich frühere Diagnostik oder führen dazu, dass jetzt viele Frauen spät ihre Diagnose erhalten. Das ist genau die Dynamik, die wir öffentlich beobachten können. Und ich bin sehr dankbar darum.