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Freitag, 30. August 2024

Psychologin Nesibe Kahraman über Ambiguitätstoleranz

Von der Kunst, innere Widersprüche und Mehrdeutigkeit auszuhalten

»Darf ich mein Essen genießen, wenn parallel Kinder verhungern? Darf ich in den Urlaub fliegen, wenn es dem Klima schadet? Darf ich es mir gemütlich machen, während andere draußen in der Kälte erfrieren? Darf ich leben, wenn andere sterben müssen?
Solche Fragen sind nicht selten in Zeiten, die geprägt davon sind, dass so viele unterschiedliche Lebensrealitäten parallel existieren. Das war auf der Welt zwar schon immer so, aber jetzt bekommen wir dank der sekündlichen Updates auf digitalen Plattformen so gut wie alles auf der ganzen Welt mit. Wie halten wir das aus?«
Nesibe Kahraman aus »Alles, was dazwischenliegt«

Unser Leben besteht aus Widersprüchen und Gegensätzlichkeiten, inneren Kämpfen und Unverständnis für andere Meinungen. Psychotherapeutin Nesibe Kahraman zeigt in ihrem neuen Buch »Alles, was dazwischenliegt«, wie es gelingt, innere Widersprüche und Mehrdeutigkeit auszuhalten. Ambiguitätstoleranz ist die Antwort, sagt sie.

 

Das dichotome Denken

Das Schwarz-Weiß-Denken, das dichotome Denken, prägt bei den meisten Menschen das Fühlen, Denken und Handeln. »Ein gutes Beispiel für Dichotomie in unserem Denken und folglich in unserem Ausdruck habe ich vor Kurzem in einer Instagram-Story – bezüglich irgendeines aktuellen Missstands auf der Welt – gesehen: »Wer zu diesem Thema schweigt, darf nie wieder das Wort Menschenrechte in den Mund nehmen!«, mahnten die weißen Buchstaben vor dem düsteren Hintergrund. Noch mehr Schwarz-Weiß. Noch mehr Entweder-oder. Noch mehr Extreme. Und 6.935 Personen gefällt das«, schreibt Nesibe Kahraman in ihrem Buch »Alles, was dazwischenliegt«.

Doch wenn wir so absolut denken, sehen wir Dinge entweder als gut oder schlecht, falsch oder richtig. So bleibt kein Raum für alles, was dazwischenliegt. Wir erwarten einen unerreichbaren Perfektionismus. Die Folge: Wir sind weniger nachgiebig – sowohl mit uns als auch mit anderen, können unseren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden und Unsicherheiten und Fehler nicht verzeihen.

 

Liebe Nesibe Kahraman, was ist denn Ambiguitätstoleranz?

Ambiguitätstoleranz ist die Fähigkeit, unklare oder widersprüchliche Situationen auszuhalten, ohne sofort einen inneren oder äußeren Konflikt entstehen lassen zu müssen. Es ist die Fähigkeit, Komplexität und Mehrdeutigkeit auszuhalten und sogar zu begrüßen.

 

Warum ist Ambiguitätstoleranz also so wichtig?

Ambiguitätstoleranz ist eine wichtige Fähigkeit, weil sie die Anpassungsfähigkeit an neue und unvorhersehbare Situationen fördert. Sie hilft dabei, stressige und unsichere Umstände gelassen zu meistern und unterstützt damit das Erhalten der psychischen Gesundheit. Menschen mit hoher Ambiguitätstoleranz können Unsicherheiten und Unklarheiten besser akzeptieren und flexibel auf Veränderungen reagieren.

Wo liegen die Grenzen der Ambiguitätstoleranz?

Ambiguitätstoleranz ist eine wertvolle Fähigkeit, insbesondere in komplexen, dynamischen und unsicheren Umgebungen. Sie kann dazu beitragen, Konflikte zu deeskalieren und eine flexible, offene Haltung gegenüber Problemen zu fördern. Doch sie hat ihre Grenzen und ist nicht in der Lage, jeden Konflikt zu lösen. Manchmal sind klare Kommunikation, Kompromisse und eindeutige Entscheidungen erforderlich, um einen Konflikt nachhaltig zu lösen. [...]

Insgesamt ist die Stärkung der Ambiguitätstoleranz eine wertvolle Strategie, um besser mit den Unsicherheiten und Komplexitäten des modernen und von aktuellen Krisen geprägten Lebens umzugehen – sei es im privaten, beruflichen oder gesamtgesellschaftlichen Kontext.

 

»Ambiguität kann uns die Möglichkeit bieten, unserer Position treu zu bleiben, ohne andere Haltungen abwehren oder abwerten zu müssen. Das ist eine Dimension von Selbstsicherheit, die erworben werden muss. Doch dafür muss zunächst die Ungewissheit ausgehalten werden.«
Nesibe Kahraman aus »Alles, was dazwischenliegt«